Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
führt zur Zersetzung. Die »fixe Luft« galt natürlich als besonders gefährlich. Zusätzlich glaubte Ignaz Semmelweis, »der Retter der Mütter«, die Ursache des Kindbettfiebers im »Leichengift« erkannt zu haben, das seiner Überzeugung nach Medizinstudenten nach der Leichensektion auf Frauen übertrugen, die im Kindbett lagen. Da man nicht von Keimen, sondern von Gerüchen als Krankheitsursache ausging, war es damals für Ärzte und Krankenhausbedienstete nicht üblich, sich die Hände zu waschen, wenn sie gleichzeitig mit Leichen und mit lebenden Patienten zu tun hatten. Als vorbeugend und heilend galt daher nicht Hygiene durch Desinfektion und Händewaschen, sondern man rückte den üblen und krankmachenden Gerüchen mit Düften und Parfums zu Leibe. Wasser kam wegen seiner Geruchsneutralität zur Reinigung nicht in Frage: Ärzte wuschen sich (wenn überhaupt) nach Leichen- oder Patientenkontakt mit Parfums und Lotionen. Von warmen Bädern riet man dringend ab, weil sich dadurch angeblich die Poren der Haut öffneten und die verdorbene Luft in den Körper eindringen konnte. Diese pseudowissenschaftlichen Theorien sind heute längst widerlegt, und doch ist die Angst vor dem »Leichengift« immer noch spürbar. So treffen Angehörige und Pflegekräfte, die beim täglichen Umgang mit Sterbenden eher sorglos mit der Hygiene umgegangen sind, nach Eintritt des Todes plötzlich extreme Schutzvorkehrungen. Eine Altenpflegerin erzählte beispielsweise, dass sie, nachdem ein von ihr betreuter Mensch gestorben war, einen Ganzkörperschutz anzog, um diesen in den Kühlraum zu bringen.
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Wenn über den Niedergang der Trauerkultur geklagt wird, wird in erster Linie der Trend zur anonymen Bestattung als Beleg herangezogen. In den neuen Bundesländern liegt ihre Quote inzwischen bei 30 Prozent aller Begräbnisse. Tote, die spurlos verschwinden, sind pflegeleicht: Sie fallen niemandem mehr zur Last und entbinden die Angehörigen von der Verpflichtung, das Grab in Ordnung zu halten.
Wer sich anonym bestatten lässt, denkt aber oft nicht nur praktisch, sondern erfüllt die Anforderungen einer mobilen Gesellschaft – wie soll der Sohn oder die Tochter, die vielleicht Hunderte von Kilometern weit weg wohnen, die Grabpflege leisten? Es sind vernünftige Beweggründe, die für eine anonyme Bestattung angeführt werden. Jedoch ist der Umgang mit Sterben und Tod eine Angelegenheit, bei der man sich bestenfalls vordergründig von vernünftigen Überlegungen leiten lässt. Die Realität des Totenkults wird durch Gefühle geschaffen, auch wenn dies in unsere moderne Kultur nicht mehr zu passen scheint. So sehen viele Kulturwissenschaftler im Trend zur anonymen Bestattung weniger eine Vernunftentscheidung als den Spiegel einer grenzenlosen Vereinsamung: Menschen habe Angst davor, vergessen zu werden – doch wo kein identifizierbares Grab ist, kann es auch nicht vernachlässigt werden. Unabhängig davon, ob jemand seine Angehörigen von Pflichten entlasten oder mit Schuldgefühlen belasten will, wird es sich meist um eine einsame Entscheidung handeln. In einer Familie, in der es kein Tabu ist, über den Tod zu sprechen, werden die wenigsten damit einverstanden sein. Denn Trauern ohne einen Ort, an dem man dem Verstorbenen begegnet, ist für viele unvorstellbar.
Anonyme Bestattungen sind, falls sie mit einer Trauerfeier verbunden sind, kaum billiger als traditionelle Beerdigungen. Lediglich die Kosten für Grabkauf und Grabpflege entfallen. Doch die finanzielle Seite ist selten entscheidend für die Wahl dieser Bestattungsform, es sind die veränderten Werte, die sie heute immer attraktiver erscheinen lassen. Doch oft ist dieser Trend nichts anderes als ein stummer Schrei, eine Behandlung des Todes, die ein bezeichnendes Licht auf die Gesellschaft wirft – eine Gesellschaft, in der der Tod nicht stattfinden darf und seine Realität geleugnet wird.
Die anonyme Bestattung ist Sinnbild einer Kultur, die sich mit der Endlichkeit des Lebens möglichst nicht belasten will. Ähnliche Motive halten Menschen häufig davon ab, ein Testament zu machen. Sie vermeiden die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Sterben und scheuen sich darüber hinaus, die Beziehungen zu ihren nächsten Angehörigen zu klären. Vielen ist es offenbar gleichgültig geworden, ob sich ihre Angehörigen nach ihrem Tod gut verstehen oder sich wegen des Erbes in die Haare geraten. Sie verzichten darauf, ihrem Leben einen bewussten Abschluss zu geben. Diese Haltung
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