Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
dafür Zeit zu haben. Beides ist in unserer Sterbe- und Trauerkultur nicht mehr vorgesehen. Dem Tod und der Trauer eine Heimat geben heißt, es dem Einzelnen zu ermöglichen, so Abschied zu nehmen, wie es für ihn richtig ist. Heimat ist nicht einfach nur irgendein Ort; sondern ein Ort, an dem man sich so vertraut fühlt, dass man sich mit dem Unvertrauten, Unheimlichen, das der Tod für uns bedeutet, persönlich auseinandersetzen kann. Wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, ist das Zuhause der beste Ort, um sich in aller Ruhe zu verabschieden und auch Verwandte, Freunde und Nachbarn dazu einzuladen. Denn selbst in den Bestattungshäusern, die ein sogenanntes Abschiedszimmer eingerichtet haben, werden die Angehörigen selten ermutigt, die Zeit bis zum Begräbnis zu nutzen und immer wieder zu kommen.
Jeder Mensch trauert anders, was bedeutet: Jeder Mensch braucht etwas anderes. Trauerphasen sind nicht geradlinig, sondern gleichen eher einer Spirale. Vergangene Ereignisse werden immer wieder in Erinnerung gerufen und in Gedanken befragt, aber mit der Zeit verändert sich der Blickwinkel und damit auch die Bedeutung und die Bewertung dessen, was geschah. Häufig ist eine Lebensbilanz Teil eines solchen Prozesses. Trauerwege kennen keine Gleichförmigkeit und keinen Stillstand. Trauer kennt keinen geraden und einzig richtigen Weg. Die Gefühle, die mit Verlusterfahrungen verbunden sind, füllen Zeiträume aus – und diese Zeiträume muss man ihnen einräumen .
Im Krankenhaus ist die Versorgung Verstorbener im Wesentlichen ein administrativer, hygienischer Vorgang. Von dort werden die Verstorbenen vom Bestatter abgeholt, der übliche Weg führt oft viel zu schnell direkt zum Friedhof, manchmal mit einem Zwischenaufenthalt im Bestattungshaus. Zwar sagen die meisten Bestatter, es sei möglich, den Verstorbenen noch einmal zu sehen. Doch in der Regel stehen für diese letzte Begegnung gerade kaum mehr als zehn Minuten in einer gekühlten Halle oder in einem Abstellraum im Krankenhaus zur Verfügung. Viele Angehörige kommen gar nicht auf die Idee, dass sie sich den Toten auch vom Krankenhaus wieder in die eigenen vier Wände bringen lassen könnten. Dazu tragen unter anderem bis heute gängige Vorstellungen wie die Legende vom »Leichengift« bei.
Sind Leichen giftig? Nein! Ein gesunder Verstorbener ist so giftig wie ein gesundes totes Huhn. Es gibt kein Leichengift. Zwar entstehen durch den Fäulnisprozess Toxine als Abbauprodukte von Eiweißen, sogenannte Alkaloide, ein Kontakt mit diesen Alkaloiden ist jedoch ungefährlich und eine schädliche Wirkung durch Berührung oder Einatmung von »Leichengift« ist ausgeschlossen. Dennoch gilt der Leichnam in vielen Kulturen sofort nach Eintritt des Todes als »unrein« und gefährlich. In Europa wurde die Vorstellung vom Leichengift vor allem durch zwei pseudowissenschaftliche Theorien des 18. Jahrhunderts bekräftigt: Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert hat man Gerüche – vor allem Fäulnis- und Verwesungsgerüche – für das Entstehen von Krankheiten verantwortlich gemacht. Im 18. Jahrhundert entwickelte Johann Joachim Becher die sogenannte »Fäulnistheorie«. Die Fäulnistheorie war eine Geruchsklassifikation, die dem Arzt bei der Diagnose von Krankheiten helfen sollte. Als besonders gefährlich galten der Fäulnistheorie zufolge die Ausdünstungen frisch Verstorbener. Erst durch die Erfindung des Mikroskops und die Entwicklung der Bakteriologie durch Louis Pasteur um 1880 erkannte man Keime als Krankheitserreger.
Wie stark die Angst vor dem Tod durch krankmachende Dämpfe war und wie psychosomatisch man darauf reagierte, zeigen die Ereignisse rund um die Öffnung einer halbverwesten Leiche in einem Seziersaal der Medizinischen Fakultät in Paris anlässlich einer Prüfung von vier Studenten: Der erste Kandidat fiel wegen der Ausdünstungen gleich zu Beginn in Ohnmacht, beim zweiten zeigte sich ein Hautausschlag.
Neben der Fäulnistheorie lieferte die Theorie der fixen Luft eine Grundlage für den Leichengift-Mythos und die Geruchsparanoia der Europäer. Chemiker des 18. Jahrhunderts erklärten den Verwesungsprozess mit der Annahme der »fixen Luft«. Sie fragten sich nicht, warum ein toter Körper verwest, sondern, warum ein lebendiger Körper sich nicht zersetzt. Als Erklärung formulierten sie die Hypothese der fixen Luft: Diese »fixiert« den lebenden Körper und verhindert so seinen Zerfall. Nach Eintritt des Todes entweicht die »fixe Luft« und
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