Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
Gesellschaft gilt Zeitvergeudung als die schlimmste aller Sünden, wie der Soziologe Max Weber angemerkt hat. Der Sozialpsychologe Robert Levine weist auf die besondere Bedeutung hin, die fernöstliche Kulturen dem Raum zwischen Gegenständen und Tätigkeiten zumessen. Wo ein westlich sozialisierter Mensch nur sinnlose Leere empfindet, sehen Japaner »ma« – einen Raum »voll von Nichts«, von dem eine produktive Kraft ausgeht. Die spirituellen Schulen aller östlichen Kulturen haben aus solchen Konzepten praktische Empfehlungen abgeleitet. Der weiter oben schon zitierte Zen-Meister Thich Nhat Hanh formuliert es so: »Statt zu sagen: ›Sitz nicht einfach nur da; tu irgendetwas‹, sollten wir das Gegenteil fordern: ›Tu nicht einfach irgendetwas; sitz nur da.‹«
Erinnerungen formen die Persönlichkeit. Lebendig wird die Vergangenheit nur für den, der sich selbst als Akteur darin sieht. Die Autobiografie eines Menschen entsteht dadurch, dass ihm bewusst ist, unter welchen Umständen er diese oder jene Erfahrung gemacht hat. Wenn das Gehirn eine Erfahrung zum Speichern in ihre Teilinformationen zerlegt, merkt es sich Orte, Farben, Formen, Gefühle, Töne, Düfte, Geschmack. Die Zeit aber wird nicht kodiert. Ebenso wenig wie eine Uhr im Kopf existiert, führt das Gehirn einen Kalender.
Der Schriftsteller Marcel Proust hat dieses Phänomen so genau, so bildhaft und ausführlich beschrieben wie kein anderer. Am Ende seines Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erinnert sich der Erzähler an den Klang eines Glöckchens, das er einst als Kind in seinem Elternhaus hörte. Dann fällt ihm auf, dass er dieses Läuten »noch im Ohr hatte, diese Geräusche selbst, obwohl sie doch so weit in der Vergangenheit lagen. (...) Um diese Stimme möglichst aus großer Nähe zu hören, war ich gezwungen, tiefer in mich selbst hinabzusteigen. Also lag dieses Klingen noch immer in mir und zudem zwischen ihm und dem gegenwärtigen Augenblick die ganze, unendlich breit entfaltete Vergangenheit, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie in mir trug.« Mit Recht spricht Proust von den »vorübergegangenen und von uns doch nicht getrennten Jahren«. In der Begegnung mit Tod und Trauer machen wir die Erfahrung, dass die Bindung an andere mit deren Tod nicht endet. Die Toten sind in der individuellen und kollektiven Erinnerung Teil des Lebens.
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Der Tod und die Liebe
Was Sterbehemd und Brautkleid gemein haben
Der Tod kommt, wann er will. Was danach kommt, ist allerdings in Deutschland keineswegs dem Willen der Trauernden überlassen. Im Gegenteil. Für den Umgang mit Toten, für Bestattungen und Friedhöfe gelten enge Regeln. Von einer freien Entfaltung der Persönlichkeit kann nicht die Rede sein. Darf man dem toten Vater seine Lieblingspantoffeln anziehen? Dürfen Kuscheltiere mit in den Sarg? Kann man diesen auch anders als nur mit Blumen schmücken? Ihn vielleicht selbst bauen? All das sollte individuell gestaltet werden dürfen, denn unser Abschied, unsere letzten Ruhestätten sollen unsere Individualität widerspiegeln.
Wenn wir Wert darauf legen, unseren eigenen Tod zu sterben, dann ist es höchste Zeit, den Abschied von unseren Nächsten genauso individuell zu gestalten, wie wir unser Leben leben wollen. Es gilt daher, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden und die Handlungsspielräume, die sich bieten, so weit wie möglich auszuschöpfen. Doch viele wissen überhaupt nicht, wie viel Gestaltungsfreiraum sie haben, wenn sie mit dem Tod eines Angehörigen konfrontiert werden. Sie wollen es vielleicht auch gar nicht wissen, sondern gehen lieber den bequemen Weg. Der Bestatter bringt einen Katalog mit, aus dem der Sarg und das Hemd ausgewählt werden können, der Pfarrer schlägt die Lieder und Texte vor, mit denen er die Trauerfeier gestalten wird. Die Zeit ist kurz, und in der Regel sind die Hinterbliebenen viel zu benommen, um sich mit all diesen Fragen zu befassen und eigene Gestaltungsvorschläge zu machen.
Die enge Trauerreglementierung, die wir mit Sarg- und Friedhofszwang in Deutschland haben, ist eine Bevormundung, die nicht mit öffentlichem Interesse zu begründen ist – einziger »Sachzwang« scheint der Umsatz von Kommunen, Bestattern und Sargherstellern zu sein. Sicher: Die kulturellen Konventionen und Regelungen bieten Schutz vor einem pietätlosen Umgang mit Sterbenden und Toten. Niemand würde wollen, dass es jedermanns Privatangelegenheit wäre, ob er einen toten Angehörigen irgendwo entsorgt wie
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