Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
Herausforderung, die es möglichst lange hinauszuzögern gilt. Aus der Alltagserfahrung haben wir die Schnittstellen zwischen Leben und Tod in abgesonderte Räume und Institutionen verlagert. Dort wird gekämpft, versorgt und verloren. Gestorben wird im Krankenhaus, Hospiz oder Pflegeheim.
Was bleibt, ist ein kurzer und kalter Abschied: Ein letzter Blick in die gekachelten Räume von Kliniken. Viele Menschen kennen den Tod nur noch aus dem Fernsehen. Dort wird jeden Abend reihenweise gestorben, und es hat nichts mit uns zu tun. Wir wissen weniger denn je, was Sterben und Tod – für uns – bedeuten. Vom richtigen, echten Tod können wir uns kaum noch eine Vorstellung machen. Wir haben verlernt, dass Tod und Trauer, Leiden und Sterben zum Leben dazu gehören. Diese Ausgrenzung des Todes setzt sich in der Verbergung der Toten fort. Die häusliche Aufbahrung ist selten geworden, bestattet wird heute bevorzugt »im kleinen Kreis«, und so preiswert, wie es eben geht. Wir verweigern uns damit einer realen und persönlichen, einer sinnlichen Erfahrung des Abschiednehmens, die am Anfang eines Trauerprozesses steht. Trauer gilt weniger denn je als gesunder, notwendiger und auszulebender Prozess.
Tod und Trauer sind zum Problem geworden. Und das ist eine gute Ausgangsbasis, um unser Verhältnis zu Tod und Trauer zu erneuern und eine »Wiederaneignung« zu fördern. Das ist, zunächst, eine persönliche und individuelle Aufgabe.
»Warum soll ich mich mitten im Leben mit Tod und Trauer befassen?« Die Frage nach dem Warum stellt sich aus einer Haltung heraus, die Leben und Tod als Gegensätze begreift und das Ende allein als Endpunkt. Doch Endlichkeit, Abschied und Trauer sind im Leben jederzeit präsent. Niemand kennt den Tag, an dem ihn oder einen nahestehenden Menschen Krankheit oder Tod begegnet, jeder wird in der einen oder anderen Form Verlusterfahrungen verkraften müssen, die einen Lebensabschnitt unwiederbringlich beenden. Je mehr wir (wieder) vertraut werden mit der Endlichkeit des Lebens, die auch eine Endlichkeit von Bindungen zu anderen bedeutet, desto mehr gewinnen die »großen Fragen« – nach Sinn und Werten im individuellen Leben – an Bedeutung und Orientierung.
Je früher wir anfangen hinzuschauen, desto besser. Der Tod gehört zum Leben. Nur wenn wir ihn als Tatsache akzeptieren, können wir ein sinnvolles und erfülltes Leben führen. Die Tatsache, dass wir alle sterben, muss keineswegs einen dunklen Schatten auf das Leben werfen. Im Gegenteil. Sie kann eine Befreiung sein. Die Generation der sogenannten »Babyboomer«, der ab den 50er Jahren geborenen, hat den Wertewandel von Konformität, Autorität und Disziplin hin zu den persönlichen Werten Freiheit, Individualität und Selbstverantwortung gefordert und vorgelebt. »Jeder ist seines Glückes Schmied.« heißt die Parole der individualisierten Moderne, und »Jeder ist seines Unglückes Schmied« lautet die logische Konsequenz. Trauern, etwas intensiv durchleben und bearbeiten, ist mit Leid, Ohnmacht und Kontrollverlust verbunden. Durch den Tod eines Angehörigen sind wir mit etwas konfrontiert, das wir nicht beeinflussen konnten.
Diesen Werten gilt es auch dort Geltung zu verschaffen, wo Professionalisierung und Medikalisierung den Blick verstellen. Niemand darf uns vorschreiben, wie wir unsere Kinder zu erziehen und unsere Ehe zu führen haben, welchen Beruf wir wählen sollen oder wie wir unsere Geburtstagsfeier begehen. Noch in der Generation unserer Eltern und Großeltern waren die Konventionen und Rahmen weitaus enger gesetzt, und der Preis für individuelle Abweichungen hoch. Das hat sich, zum Glück, geändert.
Wenn wir unser Verhältnis zu Sterben, Tod und Trauer korrigieren wollen, müssen viele Kräfte mobilisiert werden. Ich wünsche mir, dass immer mehr Menschen ihr Unbehagen an einer von Behörden verordneten und starren Gesetzen geregelten Sterbe- und Trauerkultur in Deutschland übersetzen in einen zivilen Ungehorsam: sich die Sterbenden und Toten nicht enteignen lassen, Tod und Trauer nicht in Expertenräume abschieben, sondern ihren eigenen persönlichen Standpunkt bestimmen und so handeln, dass die Einzigartigkeit des Menschen auch im persönlichen Abschied und in seinem persönlichen Erinnerungsort Ausdruck findet.
Wir können nicht einfach neue Normen aufstellen und Forderungen erheben. Vielmehr müssen Gesetzgeber, Kommunen und Unternehmen die Freiräume erweitern, die eine individuelle Erfahrung und Gestaltung von
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