Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
Trauer brauchen. Wenn es das Ziel ist, den Umgang mit den Toten zurück zu holen ins erfahrbare, individuelle Alltagsleben, dann sind auch diejenigen gefordert, die als »Experten« dem Einzelnen so viele Entscheidungen abnehmen und es damit ermöglichen, dass Angehörige sich in der Rolle des Zuschauers einrichten und nur noch aus einem vorgegebenen, vorhandenen Angebot auswählen müssen: den grauen oder schwarzen Stein, das Hemd mit Spitzen oder ohne, den Eichensarg oder die günstige Version in Fichte. Schreibt man uns nicht vor, unsere Toten wie Sondermüll möglichst schnell zu entsorgen? Auch die meisten Bestatter drängen zu einer schnellen Lösung des »Problems«.
Doch jeder Mensch ist unverwechselbar. Er hat deshalb ein Recht darauf, auch am Ende seines Lebens, im Tod und in der Erinnerung, diese Einzigartigkeit zu behalten. Für einen solch individuellen Abschied, für eine individuelle Erinnerung, können nur diejenigen aktiv sorgen, die diesen Menschen kannten, für die er mehr als ein Name, ein Patient, ein Sterbefall, ein Bestattungsauftrag ist. Sie können dafür sorgen, dass die Professionalisierung am Lebensende nicht dazu führt, dass der eigene Tod und der eigene Abschied zu einer fremden Erfahrung werden.
Ich möchte, dass wir uns von den Steinwüsten verabschieden, von Konformismus und Anonymität. Was, glauben Sie, werden in 500 Jahren unsere Gräber über uns aussagen? Ich behaupte, man wird dann allenfalls einen Zettel vorfinden, auf dem steht: »Wir waren hygienisch einwandfrei und gesetzestreu!« Dass ausgerechnet die Generation der Individualisten, die vom Aufbruch der 68er profitierte, davon, dass damals viele Freiheiten der Lebensgestaltung erkämpft wurden, die heute als Selbstverständlichkeit gelten – dass ausgerechnet diese Generation am Lebensende eine Entpersönlichung bis hin zur Anonymisierung in namenlosen Urnenfeldern akzeptiert, ist paradox.
Seit den 70er Jahren prägen nicht nur die fortschreitende Individualisierung und Liberalisierung, die eine Vielfalt parallel existierender Lebensstile, -milieus und -kulturen hervorbrachte, die Gesellschaft. In diesem halben Jahrhundert haben sich, den ökonomischen und technischen Entwicklungen folgend, auch Erwartungen, Ansprüche und Werte verändert. Verlusterfahrungen, Leiden und Erschöpfung sind, ähnlich wie Sterben und Trauer, von Lebenserfahrungen, die es anzunehmen gilt, zu Krankheiten umgedeutet worden, die es zu kurieren gilt.
Wer wäre heute noch bereit, ein altersbedingtes Nachlassen des Seh- oder Hörvermögens, Falten und müde Knochen als »normale« Erscheinungen, Erfahrungen des siebten oder achten Lebensjahrzehnts zu akzeptieren, anstatt sie als behandlungsbedürftige Krankheiten zu betrachten? Die weit verbreitete Gesundheitsreligion, die wie alle Religionen Gemäßigte und Fundamentalisten in ihren Reihen hat, lebt vom Anspruch eines vollkommenen, möglichst ewigen Wohlbefindens. »Gesundheit« ist aber nichts Absolutes: Niemand ist je vollkommen gesund.
Was für den körperlichen Idealzustand gilt, an dem sich die Ansprüche messen, gilt auch für die gewandelten Erwartungen an den psychischen Idealzustand: positiv gestimmt, leistungsfähig, zukunfts- und handlungsorientiert, unternehmerisch denkend, flexibel, mobil und vor allem jederzeit bereit, Bindungen wie Projekte zu beginnen und genauso schnell zu beenden. Glück, so wird uns überall versprochen, ist machbar und Erfolg ebenso, beides ist nur eine Frage der Leistung. Was davon abweicht, wird ausgeblendet, wer dazu nicht passt, ausgegrenzt. Das gilt für Trauerphasen, es gilt ebenso für Menschen am Lebensende.
Dass eine solche Idealvorstellung spätestens dann ihren individuellen Preis fordert, wenn sie zeitweise oder auch auf Dauer nicht mehr erfüllt werden kann, belegt die rapide Zunahme psychischer Erkrankungen, deren große Bandbreite von Symptomen unter die beiden neuen »Volkskrankheiten« Depression und Burn-out rubriziert werden. Viele Studien belegen, dass sich Angst und Stress unmittelbar auf das Immunsystem auswirken.
Es ist keineswegs nur das Nachdenken über den Tod (den eigenen wie den der anderen), der ein Nachdenken in Gang setzen kann über den Umgang mit menschlichen Grenzen, mit Endlichkeit und Leiden von Körper und Seele. Man kann die alarmierende Zahl der Menschen, die an den steigenden Anforderungen von Arbeitswelt und Lebensführung scheitern, auch so deuten: als Preis einer Verdrängung, als eine Angst vor den Grenzen, die
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