Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
hat. Marianne erinnert sich an ihre erste Begegnung mit einem Toten. Früher war es ganz normal, dass Kinder mit Verstorbenen in Kontakt kamen. Es gehörte zum Leben. Heute sterben die meisten Menschen im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Nur selten nimmt dann die ganze Familie Abschied. Auch wenn der Tote im eigenen Haus liegt, in vertrauter Umgebung gestorben ist, dürfen Kinder oft nicht selbst Abschied nehmen.
Kinder sollten die Chance haben zu begreifen, dass ihr Opa oder ihre Oma gestorben ist und nicht mehr aufwacht. Es gibt keine Altersbegrenzung für den Umgang mit dem Tod. Jeder Mensch ist in der Lage, die Erfahrung eines Verlusts zuzulassen. Ich kann Eltern nur raten, Kindern die Begegnung mit Verstorbenen zuzumuten. Die Eltern müssen damit rechnen, dass Kinder mit der Situation anders umgehen, als sie erwarten. Sie trauern anders: Ein zweijähriges Kind krabbelt womöglich durch den Saal oder fährt mit seinem Dreirädchen um den Sarg herum. Ein vier- oder fünfjähriges Kind versucht vielleicht, dem Opa Wärme einzustreicheln und erkennt, dass er tot ist. Es versteht dann, was Tod ist.
Ein siebenjähriges Kind weint und schreit, zeigt seine Gefühle und dreht sich im nächsten Moment möglicherweise um, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und will ein Eis haben.
Selbstverständlich sollen Kinder nicht traumatisiert werden, indem man ihnen beispielsweise den Anblick verstümmelter Unfallopfer zumutet. Aber dass der Tod zum Leben gehört und etwas Natürliches ist, das können auch Kinder schon begreifen. Im Gegensatz zu uns rationalen Erwachsenen kommen Kinder damit sogar erstaunlich gut klar.
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Traueralltag am Arbeitsplatz
Funktionieren um jeden Preis
Unruhe in der Firma. Andy Schubert, Art Director einer großen Werbeagentur, ist am Morgen nicht zum Meeting erschienen. Der Kunde ist sauer und der Auftrag in Gefahr. Sein Boss Werner Herweg schnappt sich das nächstbeste Telefon und ruft bei den Schuberts an. Plötzlich wird der Chef nachdenklich, sein Ärger weicht stiller Anteilnahme: Andy Schubert ist tot. Ums Leben gekommen bei einem Verkehrsunfall auf der A5 auf dem Weg in die Agentur.
Eine halbe Stunde später haben die Bildschirmschoner die Herrschaft in der zweiten Etage übernommen. Niemand kann jetzt arbeiten. Fassungslos stehen die Kollegen in den Fluren, Sätze wie: »Das kann doch nicht sein, ich hab doch noch mit ihm telefoniert«, schwirren durch offene Bürotüren an einsam klingelnden Telefonen vorbei.
Jedes Jahr gibt es beinahe eine Million Sterbefälle in Deutschland. Das bedeutet beinahe eine Million Mal trauernde Angehörige, unter denen natürlich auch viele Mitarbeiter und Kollegen in irgendeiner Firma sind. Zwei Tage Sonderurlaub werden nächsten Angehörigen in der Regel gewährt, dann hat man wieder voll funktionsfähig am Arbeitsplatz zu erscheinen. Aber wer kann schon in zwei Tagen den Schock über den Verlust eines geliebten Menschen verarbeiten und zur Tagesordnung übergehen? Im Büro ist für Privates nur wenig Raum. Trauer am Arbeitsplatz zuzulassen, offen mit dem Verlust umzugehen, auch wenn man vermeintlich Schwäche zeigt, wäre eine Alternative zur stummen Ignoranz, mit der Trauerfällen im Berufsalltag häufig begegnet wird.
Kehren wir noch einmal zur Agentur und Andy Schubert zurück.
Die Personalabteilung verfasst eine Todesanzeige für die örtliche Zeitung, jemand geht durch die Büros und sammelt Geld für einen Kranz. »Letzte Grüße, deine Firma«. Es gibt vielleicht einen Aushang am schwarzen Brett. Für die Beerdigung werden die Kollegen ein paar Stunden freigestellt. Das war’s?
Das ist Andys Chef nicht genug. Werner Herweg will nach dem Tod von Andy Schubert nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, er will seinen Mitarbeitern in diesen schweren Wochen zeigen, dass sie mehr sind als Namensschilder an Bürotüren, die sich nach Belieben austauschen lassen. Herweg legt im Empfangsbereich der Firma ein Kondolenzbuch aus, in dem sich schon nach kurzer Zeit die Seiten füllen. Oft steht da einfach nur: »Ich denke an dich. Du fehlst uns.« Der Chef selbst schreibt ein ganzes Dossier hinein, in dem er die Verdienste des Kollegen für die Firma würdigt, aber auch seine Macken, seinen Humor, seine Sensibilität und Freundlichkeit erwähnt. Dann lässt Werner Herweg auf dem schmalen Grünstreifen, der das Gebäude vom Parkplatz trennt, eine Birke pflanzen.
Mittlerweile sind zwei Jahre vergangen. Wenn die Mitarbeiter der Agentur heute an der
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