Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
halbseitig gelähmt und konnte kaum noch sprechen. Die Ärzte bereiteten die Familie auf den nahenden Tod der Großmutter vor: »Es sieht nicht gut für sie aus.« Die Familie holte Paula nach Hause. Drei Wochen später wurde sie von ihren Leiden erlöst und starb zu Hause in ihrem Bett.
Wie viele Angehörige, die einen geliebten Menschen über eine lange Zeit pflegen, lebt Claudia nach dem Tod ihrer Großmutter im Zwiespalt. Sie trauert um Paula. Aber sie fühlt auch Erleichterung, und dieses Gefühl der Erleichterung verunsichert sie: »Darf ich denken, endlich ist es vorbei? Darf ich so empfinden?«
Claudia leidet unter diesen Gedanken, möchte aber mit ihrer Familie nicht darüber reden. Sie hat Angst, dass ihre Familie sie nicht versteht.
In der Trauer gibt es viele Gefühle. Traurigkeit, Einsamkeit, Hilflosigkeit, Erschütterung, Schock. Sogar Wut, Zorn und Hass. Und eben auch Erleichterung. Wenn man einen Menschen liebt, leidet man mit ihm, wenn eine schwere Krankheit voranschreitet. Wenn das Leiden sehr lange dauert, ist das nicht nur für den todkranken Menschen eine Bürde. Auch die pflegenden Angehörigen tragen schwer an der Last. Da ist das Mitgefühl, das Mitleiden. Manchmal über Jahre hinweg.
Für einen Schwerkranken kann der Tod eine Erlösung sein. Viele alte und kranke Menschen wünschen sich ihren Tod herbei. Für die Angehörigen ist das schon vor dem eigentlichen Tod ein Abschied auf Raten. Sie beobachten die Krankheit und wissen nie, wie lange der geliebte Mensch noch lebt oder wann der befürchtete Anruf kommt. Mit dem Tod des Kranken ist diese Ungewissheit vorbei, es ist eingetreten, wovor sich Angehörige so lange gefürchtet haben. Auch das kann eine Erlösung sein.
Da ist es durchaus verständlich, wenn sich Erleichterung in die Trauer mischt.
Claudia trifft sich nach dem Tod ihrer Großmutter mit ihrer besten Freundin Ulrike und erzählt von ihren Gefühlen, von der Scham wegen ihrer Erleichterung über den Tod der Großmutter. Ulrike zeigt Verständnis, ihr ging es genauso, als ihr Großvater nach langer Krankheit starb. Sie machte sich genau die gleichen Gedanken wie Claudia, aber sie erkannte mit der Zeit, dass Erleichterung und Trauer sich nicht gegenseitig ausschließen. Sie fühlte beides, und das war für sie irgendwann in Ordnung. Das Gespräch mit der Freundin hilft Claudia, es macht ihr Mut, alle Gefühle zuzulassen, auch die Erleichterung. Denn Erleichterung ist genauso normal wie die Traurigkeit, die einen übermannt, wenn ein geliebter Mensch stirbt.
Wenn Kinder trauern
Marianne war vier Jahre alt, als ein älterer Mann aus ihrer Nachbarschaft starb. Sie kannte ihn nur als den »krummen Friedrich«, der in dem Haus mit dem katzenkopfgepflasterten Hof wohnte. Als Friedrich starb, wurde er in der kleinen Scheune aufgebahrt, mit offenem Tor zum Hof hin. Mariannes Oma Ria nahm sie bei der Hand und ging mit ihr zum Abschiednehmen.
Damals, vor 25 Jahren, gab es noch eine Gemeindeschwester. Schwester Lucana stand in ihrer Tracht am Kopfende des Sarges und las Gebete und Abschiedsworte aus einem schwarzen Buch. Der ganze Ort erwies Friedrich die letzte Ehre: Angehörige, Freunde und Nachbarn.
Marianne stand dicht bei ihrer Großmutter, unsicher, weil ihr die Situation fremd war. Leise fragte sie: »Oma, was macht der Mann da? Warum schläft er in der Scheune?« Die Großmutter flüsterte: »Er schläft nicht, er ist gestorben.« Später erklärte sie ihrer Enkelin, dass die Seele von Friedrich jetzt bestimmt im Himmel sei und sein Körper nicht mehr lebe und nun beerdigt werde. Daran war nichts Befremdliches, nichts Traumatisches. Es war einfach so.
Heute ist Marianne eine erwachsene Frau, wohnt in einem modernen Mehrfamilienhaus in Wipperfürth und hat einen fünfjährigen Sohn. Eines Tages passiert es: Die alte Dame, die unterm Dach des großen Mehrfamilienhauses wohnt, stürzt im Treppenhaus und wird ins Krankenhaus gebracht. Mike bekommt nicht mit, wie die Sanitäter »Oma Oben« abholen. Er weiß nur, dass sie auf einmal nicht mehr da ist. Marianne erklärt ihrem Sohn, dass die alte Dame aus der Dachwohnung auch nicht mehr wiederkommt. Sie war alt und krank und ist im Krankenhaus gestorben.
»Wo ist sie jetzt?«, will Mike wissen. »Im Himmel, ganz bestimmt«, antwortet Marianne. Damit ist Mikes Frage aber nicht beantwortet, er will wissen, ob er sie dort besuchen kann wie in ihrer Wohnung unterm Dach, wo er nach dem Kindergarten oft heißen Kakao mit ihr getrunken
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