Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
bedeutet konkret, Tränen, Verzweiflung, Wutausbrüche zuzulassen und den »Ausnahmezustand« auszuhalten. Das wohl Wichtigste, was wir mit unseren Ängsten und Leiden machen können, ist, sie mit einem anderen Menschen zu teilen. Deshalb ist für Trauernde die Anwesenheit und Anteilnahme anderer Menschen so wichtig. Den oder die Verstorbene bringt nichts zurück. Aber die anderen, mit denen es auch Verbindungen, Gespräche, eine gemeinsame Welt gibt, sind noch da.
Die Angst, sich mit dem Tod zu beschäftigen, ist Teil einer Kultur, die Leiden und Sterben, Abschied und Verluste, Tod und Begrenzungen des Lebens mit allen Mitteln bekämpft und dort, wo sie erscheinen, so weit wie möglich den eigenen Blicken und Erfahrungen entzieht. Wenn wir beginnen, uns bewusst gegen die Enteignung des Todes und der Toten zu wehren, verbessert sich die Lebensqualität. Der Mut zum Anderssein, zur Verweigerung der Routinen und vorgefertigten Rituale des Gedenkens schafft einen Hauch von Anarchie und er stärkt die Autonomie des Nicht-Experten – was in einer von Experten geprägten Gesellschaft eine Seltenheit geworden ist: der Mut, den eigenen Sinnes-Erfahrungen und den Wertvorstellungen zu folgen. Gerade im Angesicht der Ohnmacht kann jede Form der eigenen, aktiven Handlung ein Gefühl dafür vermitteln, dass etwas zu gestalten bleibt.
Der Tod begrenzt das Leben: Nur durch den Tod wird die Lebenszeit, die uns zur Verfügung steht, zu etwas Kostbarem. Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit den Themen Sterben, Tod und Trauer stellt die großen Lebensfragen: Wofür lebe ich eigentlich? Wer bin ich? Was will ich aus meinem individuellen Leben machen? Jede Begegnung mit dem Tod, jede schwere Krise, bricht wie eine Lawine in den Alltag ein und hält den gewohnten Lauf des Lebens an. Dieses Anhalten versetzt in die Lage, das eigene Leben aus der Adlerperspektive zu betrachten: Sind das die Prioritäten, die ich setzen will, die Werte, die mir wichtig sind? Mache ich wirklich das, was ich will, oder das, was andere wollen?
Wie gut der Tod als Abschluss des Lebens akzeptiert werden kann, hängt von dem Leben ab, das wir führen. Wenn viele sich heute wünschen, vom Tod möglichst im Schlaf überrascht zu werden, am besten gar nicht dabei zu sein, dann mag dies auch ein Hinweis darauf sein, dass damit die letzten Antworten auf die großen Fragen des Lebens, die »Wahrheit auf dem Totenbett«, unnötig sind. Wer sich keinem Glauben verbunden fühlt, steht vor der Aufgabe, die Frage nach dem Lebenssinn für sich zu beantworten. Als Summe der Werte und Ziele, die bestimmen, wie wir leben. Die Antwort auf die Frage, ob wir »richtig« oder »falsch« gelebt haben, beruht auf dem, was wir für wertvoll erachten und wo wir unseren Sinn finden. Es gibt, für viele jedenfalls, keine äußere Instanz, keine Institution mehr, die auf diese Fragen eine Antwort geben könnte. Das ist die tiefe Lücke, die nur noch aus eigener Kraft – und aus eigenem Nachdenken, Erleben und Glauben – geschlossen werden kann.
Wie schwierig dies für den modernen Menschen ist, und weshalb wir das Leben verfehlen, wenn wir den Tod daraus verbannen, hat Tolstoj in seiner kurzen Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch dargestellt: Auf das eigene Leben können wir, wie Iwan Iljitsch, notfalls zugunsten der Befolgung von Regeln und vorzeichneten Bahnen verzichten. Auf den eigenen Tod allerdings nicht. Spätestens dort holt sie uns ein, die nichtgelebte Individualität, und mit ihr die Frage, ob ein gelingendes Leben darin besteht, den Anforderungen der Gesellschaft zu genügen: »Vielleicht habe ich auch nicht so gelebt, wie ich sollte?, kam es ihm plötzlich in den Sinn … . Wie wäre es aber möglich, da ich doch alles tat, wie es in der Gesellschaft verlangt wurde, sagte er sich, und dann jagte er sofort diese einzige Lösung des Rätsels vom Leben und vom Tod als etwas ganz Unmögliches von sich fort.«
Der Tod ist nicht nur Ende oder Übergang, Rätsel, Mythos, Angstgegner und Sinnstifter. Er ist vor allem auch der Individualisierer. Im Tod trennt sich die Rolle, die Menschen in der Gesellschaft einnehmen oder die Funktion, die sie am Arbeitsplatz erfüllen, von dem unverwechselbaren, einzigartigen Menschen, der seinen eigenen Weg geht. Wenn der Tod, wenn Sterbe- und Trauerkultur für viele Menschen heute zum Problem geworden sind, ist das eine gute Nachricht: Das Unbehagen an den Konventionen, mit denen wir konfrontiert sind, ist unübersehbar. Es ist der Anfang
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