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Das letzte Koenigreich

Das letzte Koenigreich

Titel: Das letzte Koenigreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Cornwell
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Sonntag zu Gott betete, er möge uns vor der Wut der Nordmänner bewahren. Doch von dieser Wut konnte ich mir keine Vorstellung machen. Seit ich auf der Welt war, hatte sich kein Däne bei uns blicken lassen. Mein Vater aber hatte schon oft genug gegen sie gekämpft, und in dieser Nacht, da wir auf meinen Bruder warteten, erzählte er von dem alten Feind. Sie kamen, so sagte er, aus den Ländern im Norden, wo Eis und Nebel herrschten; sie verehrten die gleichen alten Götter, die auch wir verehrt hatten, bevor uns das Licht Christi gebracht worden war. Und als sie das erste Mal über Northumbrien hergefallen waren, so erzählte mein Vater, rauschten feurige Drachen über den Nordhimmel, gewaltige Blitze entluden sich über den Bergen, und das Meer war aufgewühlt von tobenden Winden.
    «Gott hat sie geschickt», sagte Gytha zaghaft, «um uns zu bestrafen.»
    «Bestrafen? Wofür?», fragte mein Vater zornig.
    «Für unsere Sünden», antwortete Gytha und bekreuzigte sich.
    «Unsinn», blaffte mein Vater. «Sie kommen, weil sie was zu essen brauchen.» Die Frömmigkeit meiner Stiefmutter reizte ihn, und er weigerte sich, von seinem Wolfsbanner zu lassen, das unsere Familie als Nachkommen von Wotan, dem alten Kriegergott der Germanen, auswies. Von Ealdwulf, dem Schmied, wusste ich, dass der Wolf, neben dem Adler und dem Raben, eines der drei Lieblingstiere Wotans war. Meine Mutter hätte lieber ein Kreuz auf unserer Fahne gesehen, doch mein Vater war stolz auf seine Vorfahren, wenngleich er nur selten von Wotan sprach. Selbst als Zehnjähriger verstand ich, dass sich ein guter Christ nicht damit brüsten sollte, von einem heidnischen Gott abzustammen. Dennoch gefiel mir die Vorstellung, von göttlicher Herkunft zu sein, und ich hörte gern zu, wenn Ealdwulf Geschichten von Wotan erzählte; wie er unser Volk belohnte, indem er uns das Land, das wir England nannten, zum Geschenk machte, wie es ihm einmal gelungen war, eine Lanze rund um den Mond zu schleudern, wie er mit seinem Schild die Mittsommernacht verdunkelte und wie er mit einem einzigen Schwertstreich das Getreide auf der ganzen Welt mähen konnte. Ich mochte diese Geschichten. Sie waren besser als die Erzählungen meiner Mutter von den Wundertaten des heiligen Cuthbert. Die Christen schienen mir allzu weinerlich, und ich war sicher, dass Wotans Anhänger nicht oft heulten.
    Wir warteten im Palas. Er war - und ist immer noch -ein großer Raum aus schweren Holzbalken unter einem strohgedeckten Dach, mit einer Harfe auf einer Bühne und einem großen steinernen Herd in der Mitte. Ein Dutzend Knechte war vonnöten, um das große Feuer in Gang zu halten; sie schafften das Brennholz über den Damm und durch die Tore, und gegen Ende des Sommers wurden die Scheite als Wintervorrat zu einem Stapel aufgehäuft, der höher war als die Kapelle. Entlang der Holzwände verlief eine breite Stufe aus Brettern, über festgetretenem Lehm und mit gewebten Wollteppichen ausgelegt. Auf dieser Stufe lebten wir. geschützt vor der Zugluft Die Hunde blieben unten auf dem mit Spreu bestreuten Boden, wo zu den vier großen Feiertagen des Jahres dem Gesinde ein Festmahl gegeben wurde.
    In dieser Nacht aber wurde nicht geschmaust; es gab nur Brot, Käse und Ale, während wir auf meinen Bruder warteten und laut darüber nachdachten, ob die Dänen womöglich wieder unruhig würden. «Gewöhnlich kommen sie nur, um zu plündern», erklärte mir mein Vater, «aber an manchen Orten sind sie auch geblieben und haben Land besetzt.»
    «Glaubt Ihr, sie wollen unser Land?», fragte ich.
    «Sie nehmen alles, was sie kriegen», entgegnete Vater gereizt. Meine Fragen reizten ihn immer, doch in dieser Nacht machte er sich Sorgen, und deshalb sprach er weiter. «Ihr eigenes Land besteht nur aus Steinen und Eis, und es wird von Riesen bedroht.»
    Von diesen Riesen wollte ich mehr hören, doch stattdessen begann er zu grübeln. «Unsere Ahnen», sagte er nach einer Weile, «haben sich dieses Land genommen. Sie haben es genommen, es bestellt und daran festgehalten. Wir werden nicht aufgeben, was uns unsere Ahnen hinterlassen haben. Sie sind übers Meer gefahren, haben hier gekämpft, ihre Hütten hier gebaut und liegen hier begraben. Dies ist unser Land, getränkt von unserem Blut und gedüngt mit unseren Knochen. Es gehört uns.» Er war wütend, aber er war oft wütend. Er musterte mich mit finsterem Blick, als fragte er sich, ob ich stark genug wäre, dieses Land Northumbrien zu bewahren und zu

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