Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Brede hätte die Frau einem Kerl ausgespannt, der nicht viel älter ist als ich. Fünf- oder sechsundzwanzig vielleicht. Ich kenn den Typen nicht, aber er heißt Sindre mit Vornamen und arbeitet im Stadholdergaarden. Soll tüchtig sein. Aber wie gesagt, das sind alles nur Gerüchte.
PROTOKOLLANTIN:
Und was denken Sie?
(Pause. Stühlescharren. Jemand kommt ins Zimmer, etwas wird in
ein Glas gegossen.)
ZEUGE:
Worüber?
PROTOKOLLANTIN:
Über den ganzen Fall.
ZEUGE:
Ich habe keine Ahnung, wer Brede umgebracht hat. Aber wenn ich raten sollte, würde ich sagen, daß Neid dahintersteckt. Bescheuert natürlich, jemanden umzubringen, bloß weil man sich darüber ärgert, daß er so erfolgreich ist, aber so sehe ich das eben. Ich selbst hab den Sonntagabend im Entré in der Küche verbracht. Ich bin gegen drei Uhr nachmittags gekommen und erst um zwei Uhr morgens nach Hause gegangen. Ich war die ganze Zeit mit anderen zusammen – abgesehen davon, daß ich drei- oder viermal pissen mußte.
Anmerkung der Protokollantin:
Der Zeuge erklärte sich flüssig und zusammenhängend. Während des Verhörs ließ er sich Kaffee und Wasser bringen.
5
»Stazione termini. Il treno per Milano.«
Der Direktor hatte sie zu dem vor dem Tor wartenden Taxi begleitet. Er erteilte dem Fahrer Anweisungen und bekundete sein Bedauern über Hanne Wilhelmsens plötzliche Abreise.
»Signora, why can’t you wait – very good flight from Verona tomorrow!«
Aber Hanne konnte nicht warten. Von Mailand aus ging noch am selben Abend eine Maschine nach Oslo. Die Bahnfahrt von Verona nach Mailand dauerte knapp zwei Stunden. Hundertzwanzig Minuten näher an zu Hause!
Bei der Paßkontrolle wurde ihr schwindlig. Vielleicht lag das an ihrer Reisejacke. Die hatte Cecilie gehört. Wie eine schwache Erinnerung nahm Hanne einen Duft wahr, den sie für verschwunden gehalten hatte. Sie lehnte sich an den Schalter und winkte die Leute, die hinter ihr standen, vorbei.
Die Wohnung.
Cecilies Sachen.
Cecilies Grab, von dem sie nicht einmal wußte, wo es lag.
Ein Flughafenangestellter reichte ihr den Paß. Sie konnte ihn nicht entgegennehmen. Ihr Arm wollte sich einfach nicht heben. Der Ellbogen tat weh, weil sie ihn so energisch auf den Schaltertisch gepreßt hatte. Sie zählte bis zwanzig, riß sich zusammen, steckte das weinrote Heft ein und rannte los. Weg aus der Warteschlange, weg aus dem Flughafengebäude. Weg von der Heimreise.
Hanne Wilhelmsen stand wieder in Verona. Sie war ihrem allerersten Impuls gefolgt. Am nächsten Morgen konnte sie über München nach Oslo fliegen.
Sie kannte Verona kaum. Seit sie im Juli hergekommen war, hatte sie sich an die Villa Monasteria und die umliegenden Hügel gehalten. Anfangs hatten die Studentinnen versucht, sie an den Wochenenden nach Verona zu locken, es dauerte mit dem Auto eine knappe halbe Stunde. Hanne hatte sich nie locken lassen.
Die lange Reihe aus Tagen zwischen braungelbem Sommer und feuchtem Dezember hatte etwas von dem Schmerz betäubt, der sie seit Cecilies Tod gelähmt hatte. In gewisser Hinsicht war Hanne weitergekommen. Und trotzdem brauchte sie noch Zeit. Vierundzwanzig Stunden wenigstens. In vierundzwanzig Stunden würde sie sich ins Flugzeug nach Norwegen setzen.
Sie würde in die Wohnung und zu Cecilies vielen mehr oder weniger vollendeten Renovierungsprojekten zurückkehren. Zu Cecilies Kleidern, die noch immer ordentlich zusammengefaltet in der einen Hälfte des Kleiderschrankes im Schlafzimmer lagen, neben Hannes Chaos aus Hosen und Pullovern.
Sie würde Cecilies Grab ausfindig machen.
Hanne stand auf der Piazza Bra in Verona und suchte ihre Ohren vor dem Lärm der Stadt zu verschließen. Das gelang ihr nicht, und ihr ging auf, daß dieser Lärm nur aus Stimmen bestand. Der Autoverkehr war von dem großen Platz ausgeschlossen. Rufe hallten von den uralten Marmorgebäuden rund um die mitten in der Stadt gelegene Arena de Verona wider und wurden über die vielen Marktbuden hinweggeweht, wo Hunderte von Händlern Schinken und Porzellan, Autostaubsauger und Trödel per la donna feilboten.
Der Rucksackriemen grub sich in Hannes Schulter. Sie lief ziellos weiter, fort von dem Menschengewimmel, in den Schatten, in eine Seitenstraße. Sie mußte sich ein Hotel suchen, einen Ort, wo sie ihr Gepäck abladen, eine Nacht schlafen und sich auf die lange Heimreise vorbereiten konnte. Sie wußte nicht so recht, ob diese Reise bereits begonnen hatte.
6
Die Morgenbesprechung hätte seit zwölf
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