Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
in Hamar. Zu Mama geflohen, ehe irgendwer von uns richtig mit ihr reden konnte. Der Pastor kam, das Mädel weinte, und eine Stunde später saß sie in der Bahn. Kann ja verstehen, daß sie mütterlichen Trost braucht. Sie ist erst fünfundzwanzig.«
»Womit unser Freund Brede ziemlich genau … doppelt so alt war wie seine Frau.«
»Fast.«
Der Kellner, der eben die mißhandelten Reste der Vorspeise entfernt hatte, unternahm einen neuen Versuch. Der Teller war diesmal größer, das Gericht jedoch ebenso unzugänglich. Inseln aus Kartoffelpüree waren wie Trutzburgen rund um ein Stück Seezunge aufgeschichtet, das von dünnen Streifen aus etwas bedeckt war, bei dem es sich um Möhren handeln mußte, und auf dessen Rücken etwas undefinierbares Grünes saß.
»Das sieht doch aus wie ein Scheißmikadospiel«, sagte Billy T. genervt. »Wie ißt man so was bloß? Was ist eigentlich gegen Steak und Pommes einzuwenden?«
»Ich kann das essen«, erbot sich Severin. »Danke.«
Der Kellner stellte ein Glas Mineralwasser mit einem Zweiglein Minze vor ihn hin und verschwand.
»Nie im Leben. Dieses Gericht kostet dreihundert Kronen! Was sind das für grüne Streifen in der Soße? Lebensmittelfarbe?«
»Pesto, stell ich mir vor. Probier doch einfach mal. Sie waren erst sechs oder sieben Monate verheiratet.«
»Weiß ich. Ist etwas über Vermögen, Erbschaft, Testament oder so weiter bekannt? Kriegt das alles die Gattin?«
Severin Heger ließ seinen Blick zu einem Paar von Mitte Vierzig wandern, das schon sehr lange vor dem Kondolenzbuch stand. Der Mann trug einen Smoking, die Frau ein eierschalenfarbenes Kleid, das besser in eine andere Jahreszeit gepaßt hätte. Ihre Haut wirkte in der schweren Seide schlaff und bleich. Als sie sich umdrehte, sah Severin, daß sie weinte. Er wandte sich ab, als ihre Blick sich begegneten.
»Du hast doch nicht etwa Rotwein zur Seezunge bestellt?«
Der Kellner goß ein neues Glas ein, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Meine Schwester sagt, daß man zu weißem Fisch Rotwein trinken darf«, erklärte Billy T. mürrisch und nahm einen großen Schluck.
»Zu Kabeljau, ja. Und vielleicht auch zu Heilbutt. Aber zu Seezunge? Na ja, deine Sache. Und nein, über Geld und so weiter wissen wir so gut wie nichts. Karianne und Karl sind aber schon an der Arbeit. Morgen werden wir einiges mehr haben.«
»Weißt du, daß er in Wirklichkeit Freddy Johansen hieß?« fragte Billy T. grinsend.
»Wer?«
»Brede Ziegler. Er hieß wirklich jahrzehntelang Freddy Johansen. Trottel. Pathetisch, den Namen zu ändern. Vor allem für einen Mann …«
»Sagt einer, der seinen Nachnamen schon vor zwanzig Jahren aufgegeben hat.«
»Das ist etwas anderes. Etwas ganz anderes. Das hier schmeckt ja sogar.«
»Das seh ich. Wisch dir das Kinn ab.«
Billy T. faltete die gestärkte Leinenserviette auseinander und fuhr sich über die Mundpartie.
»Ich habe heute nachmittag mit der Gerichtsmedizin geredet. Ziegler hatte totales Pech. Dieser Messerstich …« Er hob sein eigenes Messer und richtete die Klinge auf seine Brust.»… hat ihn ungefähr hier getroffen. Nur zwei Millimeter weiter rechts, und Ziegler wäre noch am Leben.«
»O Scheiße.«
»Das kannst du wohl sagen.«
»Wissen sie noch mehr? Die Heftigkeit, meine ich, von oben, von unten, linkshändiger Mörder, Mörderin vielleicht? Solche Sachen?«
»Nada. Die sind schließlich auch keine Hellseher. Aber wir kriegen schon noch mehr. Nach und nach. Willst du denn gar nichts essen?«
»Bin schon satt. Aber du … Himmel, da ist ja Wenche Foss!« flüsterte Severin und strengte sich an, in eine andere Richtung zu blicken.
»Na und?« erwiderte Billy T. »Die darf doch auch mal ausgehen. Was meinst du damit, daß alle Welt ein Motiv für den Mord an Brede Ziegler gehabt hätte? Abgesehen davon, daß der Typ Karriere gemacht hat, meine ich.«
»Ich dachte, die geht nur ins Theatercafé.«
»Hal-lo!«
»Tut mir leid. Ich habe mit Karianne gesprochen …« Severin gab sich Mühe, Billy T. anzuschauen und nicht abzuschweifen. »… und mir die Zeugenvernehmungen zusammenfassen lassen. Wir sind daran gewöhnt, daß alle losfaseln: ›Ach, wie schockierend‹, und: ›Nein, ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand diesen Mann umbringen wollte‹, und so … aber in diesem Fall scheint es anders zu sein. Die Zeugen wirken natürlich erschüttert und so, aber sie sind nicht wirklich schockiert. Nicht so, wie wir das kennen. Alle machen sie sich Gedanken
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