Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
trotzdem toll. Auf die müssen wir gut aufpassen. Schlaff gut.
Marry.
Das mit dem Schaal tut mir leit. Hätt ich vorher sagen sollen. Aber der war so warm und schön wos so kalt war.
Marry noch mal.«
Hanne lächelte und legte den Zettel in eine Schublade. Sie zog sich aus und schlüpfte nackt ins Bett. Als sie Nefis’ warmen Rücken an ihrem Bauch spürte, mußte sie weinen, leise, um Nefis nicht zu wecken. Sie wußte nicht, wann sie sich zuletzt auf den Heiligen Abend gefreut hatte.
Vermutlich passierte ihr das überhaupt zum ersten Mal.
66
»H. W.
Wenn du mal wieder auf entscheidenden Beweisen hockst, würdest du dann freundlicherweise auf der Wache Bescheid sagen? Das würde die Ermittlungen um einiges erleichtern. Es wäre außerdem klüger, wichtige Zeuginnen nicht bei dir wohnen zu lassen. Zumindest nicht, ohne die Ermittlungsleitung zu informieren.
Billy T.«
Hanne Wilhelmsen riß den gelben Zettel von der Tür. Sie wurde nicht einmal wütend, obwohl die Mitteilung sicher schon so lange hier hing, daß praktisch alle sie gesehen haben mußten.
Sie hätte Harrymarry nicht zu sich nach Hause holen dürfen. Auf jeden Fall hätte sie Bescheid sagen müssen. Sie hätte Harrymarry auf die Wache schleifen müssen, sowie sie sie gefunden hatte, sofort und ohne weiteres. Aber sie hatte sie zu sich nach Hause gelockt, mit Essen und Gerede, wie eine herrenlose Hündin, zu der sie plötzlich eine unerklärliche Zuneigung gefaßt hatte. Die Frau hätte richtig ins Verhör genommen werden müssen. Dann wäre ihnen der Schal vielleicht aufgefallen. Sie hätten sie gefragt, woher er stammte. Ein grün-lila Seidenschal, der durchaus nicht zu Harrymarrys Laméjacke und ihren zerrissenen Strümpfen paßte. Irgendwer hätte sie danach gefragt. Ziemlich sicher, sagte Hanne und biß sich in die Lippe.
Als sie den Schal bei Thale auf einem Bild von Idun Franck entdeckt hatte, war ihr Harrymarrys einziges akzeptables Kleidungsstück eingefallen. Und in dem Moment war ihr aufgegangen, was sie angerichtet hatte. Es war nicht allein Billy T.s Schuld, daß die Ermittlungen steckengeblieben waren. Aber Hanne Wilhelmsen hatte das wiedergutmachen können. Die Aufklärung war ihr Verdienst. Das wußten alle. Und alle beglückwünschten sie dazu.
Billy T. begnügte sich mit dem Verfassen von hämischen Zetteln.
»Getan ist getan, und gegessen ist gegessen«, murmelte sie und steckte den Zettel in die Tasche.
»Hallo, Hanne. Das war nicht nötig.« Silje Sørensen nickte zu Hannes Hosentasche hinüber, aus der noch eine Ecke des Zettels hervorragte. »Der hängt schon den ganzen Tag da. Alle haben ihn gesehen.«
Hanne schnitt eine undefinierbare, flüchtige Grimasse. »Scheiß drauf. Was macht Sindre?«
»Hat gestanden. Endlich.«
»Erzähl.«
Es war der heilige Abend 1999, und es ging auf Mittag zu. In der Wache herrschte eine ungewöhnliche Stimmung, das ganze Gebäude schien erleichtert aufzuatmen, weil auch in diesem Jahr Weihnachten gekommen war. Der Duft von Glühwein und Pfeffernüssen schien allen anzuhaften, die in den Gängen unterwegs waren, jeder zog eine wunderschöne, feierliche Duftschleppe hinter sich her. Sie hatten mehr Zeit. Manche lächelten, andere grüßten. Hanne hatte von Erik Henriksen ein rotes Paket bekommen. Sie hatte ihn seit jenem ersten Tag, an dem sie im Erdgeschoß vor dem Fahrstuhl am liebsten kehrtgemacht hätte, kaum gesehen. Er hatte gegrinst, gratuliert und sein Geschenk auf den Tisch geworfen. Wo es noch immer ungeöffnet lag. Solange es auf ihrem Schreibtisch lag, in knallrotem Glanzpapier mit Schleife, Gold und Glitzer, erinnerte es sie daran, daß vor langer Zeit einmal alles ganz anders gewesen war als jetzt.
Silje und Hanne gingen die Treppen zur Kantine hinauf. Unten im Foyer spielte die Polizeikapelle Zu Bethlehem geboren; schief und schön, mit einem viel zu dominanten Kornett.
Als Hanne erfuhr, daß Brede Ziegler Sindre Sand am Samstag, dem vierten Dezember, zu einem Zug durch die Gemeinde eingeladen hatte, ging ihr auf, daß sie den berühmten Restaurantbesitzer noch immer nicht zu fassen bekam. Vielleicht hatte Idun Franck ja recht.
Brede Ziegler konnte durchaus ein schlechter Mensch gewesen sein.
Hanne waren nur selten schlechte Menschen begegnet. Mörder, Vergewaltiger und Schwindler – mit denen hatte sie seit über fünfzehn Jahren fast täglich zu tun. Dennoch fiel ihr auch bei genauerem Nachdenken unter denen kein einziger wirklich schlechter Mensch ein.
Brede
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