Sommermaerchen
1. KAPITEL
Charles Summerson, neunter Marquess of Pelham, wollte nicht spionieren – ganz gewiss nicht. Er hatte sich lediglich hinausgelehnt, um die Temperatur zu prüfen. Ihn plagten sogar Gewissensbisse, weil er das Fenster nicht sofort schloss, nachdem er festgestellt hatte, dass keine Regenwolken in Sicht waren, sodass er getrost einen Ausritt in den Park unternehmen konnte. Es gab keinen Grund, noch länger an seinem Fensterplatz zu verweilen.
Dennoch verweilte er.
Charles stand nicht einmal an seinem eigenen Fenster. Vielmehr befand er sich in seinem ehemaligen Zimmer im Haus seiner Mutter in der Park Lane, wo er vorübergehend wohnte, während seine eigene Residenz renoviert wurde. In all den Jahren seiner Kindheit hatte er nie erkannt, welch vorzüglichen Aussichtspunkt das Fenster bot, um die Geschehnisse im Nachbargarten zu beobachten. Nicht, dass ihn diese Geschehnisse je interessiert hätten. Offen gestanden war er auch jetzt nicht neugierig darauf, was Lady Sinclair in ihrem Garten trieb. Sie lebte schon so lange nebenan, wie er denken konnte, und war eine jener Matronen der feinen Gesellschaft, deren neunundfünfzigstes Lebensjahr nie zu enden schien, gleich wie viele Jahre vergingen. Das Gift, das sie versprüht, konserviert sie wohl, mutmaßte er.
An diesem Tag jedoch saß nicht Lady Sinclair im Nachbargarten, sondern eine ganz andere Dame, eindeutig jünger und ein viel angenehmerer Anblick als besagte Matrone.
Reglos beobachtete Charles die ihm unbekannte junge Frau. Sie lag mit dem Rücken zu ihm gekehrt auf Lady Sinclairs akkurat geschnittenem Rasen, hatte sich auf einen Ellbogen gestützt und schrieb eifrig etwas in ein kleines Buch. Zu seinem großen Bedauern konnte er ihr Gesicht nicht sehen, sondern nur ihren Kopf, den sie tief über ihre Notizen gebeugt hielt.
Er ließ den Blick über ihren Körper schweifen, oder zumindest über das, was er davon erkennen konnte. Sie trug ein zartgelbes Kleid im Farbton von Lady Sinclairs Kletterrosen, das einen angemessenen – wenngleich auch für ihn enttäuschend –
sittsamen Schnitt aufwies. Auf seine Fantasie vertrauend malte er sich die Einzelheiten aus, die das Kleid verbarg: eine schmale Figur, sanft geschwungene Hüften, eine schlanke Taille, runde Brüste. Stumm wünschte er, sie würde sich umdrehen, um seine Neugier zu befriedigen.
Weiter ließ er den Blick wandern, nun über ihre ausgestreckten Beine. Sie hatte die Schuhe abgestreift und nachlässig neben sich auf den Boden fallen lassen. Ihre Waden waren zwar – so, wie es sich ziemte – züchtig bedeckt, aber ihre Füße sah er deutlich. Gelegentlich wackelte sie mit den Zehen im Gras.
Er wusste, er sollte sich abwenden, und hätte dies wohl auch getan, wären da nicht ihre verflixten bestrumpften Füße gewesen. Ihr Anblick stachelte seine Neugier zusätzlich an und ließ ihn umso heftiger wünschen, einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen zu können. Zudem war sie ganz vertieft in das, was auch immer sie da tat, und so bestand wohl kaum die Gefahr, von ihr ertappt zu werden.
Plötzlich hielt die junge Frau im Schreiben inne und blätterte durch die Seiten des Buchs. Charles hätte in diesem Moment alles gegeben, um mit ihr lesen zu können.
Fast schon begierig hoffte er, es handele sich um ihr Tagebuch, in dem sie ihre innersten Geheimnisse, ihre verborgensten Wünsche aufzeichnete ...
Er schenkte dem Buch indes keinerlei Beachtung mehr, als sie, offenbar vergessend, dass sie eine junge Dame war, ein Bein unbekümmert abwinkelte und es hin- und herschwang. Ihr Rock fiel ihr dadurch bis zum Knie hoch, und er kam in den Genuss, einen schlanken Knöchel und eine wohlgeformte Wade bewundern zu können.
Anerkennend hob er eine Augenbraue. Vermutlich sollte ich mich schämen, sie heimlich zu beobachten, dachte er. Sein lästig moralisches Gewissen schob er indes beiseite; es war ihm schlicht unmöglich, den Blick von ihr zu nehmen. Er überlegte sogar, rasch die Gemächer seiner Schwester aufzusuchen, um sich ihr Opernglas zu borgen.
Bevor er allerdings diese Entscheidung treffen konnte, wurden seine ruchlosen Gedanken jäh von einer schrillen Stimme unterbrochen – vermutlich gehörte sie der Xanthippe Lady Sinclair. „Bea! Komm herein, es ist Zeit zum Umkleiden.“
„Ich komme“, antwortete die junge Frau. Jedoch schloss sie weder das Buch, noch stand sie auf.
Einen Augenblick später erklang die Stimme erneut, diesmal ungehaltener: „Bea!
Wir werden zu spät
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