Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
zusammen.
»Entschuldigung …« Billy T. streckte die Hand nach einem Kellner in blauer Hose und kreideweißem, kragenlosem Hemd aus. »Was ist das hier eigentlich?«
»Russian Slush?« Der Kellner verzog einen Mundwinkel fast unmerklich, als wage er nicht so recht, das Lächeln zu erwidern. »Zerstoßenes Eis, Wodka und Preiselbeeren, der Herr.«
»Ach. Danke.«
Billy T. trank, obwohl er strenggenommen im Dienst war. Er hatte nicht vor, die Rechnung der Spesenkasse zu präsentieren; es war Montag, der 6. Dezember, sieben Uhr abends, und ihm war alles schnurz. Er saß da und spielte mit dem Glas, während er seine Blicke durch das Lokal schweifen ließ.
Das Entré war im Moment ganz einfach angesagt.
Billy T. war in Grünerløkka geboren und aufgewachsen. In einer Zweizimmerwohnung im Fossevei hatte seine Mutter ihn und seine drei Jahre ältere Schwester durchgebracht, indem sie sich in einer Wäscherei ein Stück die Straße hoch abplackte und nachts durch Flickarbeiten noch etwas dazuverdiente. Seinen Vater hatte Billy T. nie kennengelernt. Noch immer wußte er nicht, ob der Mann sich einfach davongemacht hatte oder ob er von der Mutter noch vor der Geburt des Sohnes vor die Tür gesetzt worden war. Jedenfalls war der Vater nie erwähnt worden. Das einzige, was Billy T. über ihn wußte, war, daß er auf Socken zwei Meter gemessen hatte und ein begnadeter, wenn auch durch und durch alkoholisierter Frauenheld gewesen war. Was vermutlich zu einem ziemlich frühen Tod geführt hatte. Billy T. hatte die vage Erinnerung, daß seine Mutter eines Tages überraschend früh von der Arbeit gekommen war. Er mochte damals so um die sieben gewesen sein, und wegen einer kräftigen Erkältung war er an jenem Tag nicht in die Schule gegangen.
»Er ist tot«, hatte die Mutter gesagt. »Du weißt schon, wer.«
Ihre Augen hatten jegliche Frage untersagt. Sie war ins Bett gegangen und erst am nächsten Morgen wieder aufgestanden.
In der Wohnung im Fossevei hatte es nur ein Bild des Vaters gegeben; ein Hochzeitsbild der Eltern, das aus irgendwelchen Gründen an der Wand hängen blieb. Billy T. hatte den Verdacht, daß seine Mutter es als Beweis dafür nutzen wollte, daß die Kinder ehelich geboren waren – sollte jemand die Unverschämtheit besitzen, daran zu zweifeln. Wer auch immer einen Fuß in die überfüllte Wohnung setzte, erblickte als erstes das Hochzeitsbild. Bis zu dem Tag, an dem Billy T. in strammer Uniform nach Hause zurückkehrte, nachdem er sein Examen an jener Institution bestanden hatte, die damals Polizeischule genannt wurde. Er war den ganzen Weg gerannt. Unter dem Kunstfasergewebe brach ihm der Schweiß aus. Seine Mutter legte ihre dünnen Arme um seinen Hals und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Im Wohnzimmer saß seine Schwester und öffnete lachend eine Flasche billigen Sekt. Sie hatte zwei Jahre zuvor ihr Examen als Krankenschwester abgelegt. Noch am selben Tag wurde das Hochzeitsbild von der Wand genommen.
Billy T. hatte erst mit dreißig angefangen, Alkohol zu mögen.
Inzwischen war er vierzig, und noch immer konnten Wochen vergehen, in denen er nur Cola und Milch trank.
Seine Mutter wohnte nach wie vor im Fossevei. Seine Schwester war mit ihrem Mann und inzwischen drei Kindern nach Asker gezogen, Billy T. dagegen war in Grünerløkka geblieben. Er hatte seit Beginn der sechziger Jahre das ganze Auf und Ab im Stadtteil miterlebt. Er war mit einem Plumpsklo großgeworden und erinnerte sich an den Tag, an dem die Mutter, stolz und den Tränen nahe, mit der Hand über ein in einer ehemaligen Abstellkammer frisch installiertes Wasserklosett gestrichen hatte. Er hatte zugesehen, wie die Stadtsanierung in den Achtzigern den sozialen Wohnungsbau in der Gegend abgewürgt hatte, er hatte Trends und Moden kommen und gehen sehen wie Zugvögel auf Kuba.
Billy T.s Liebe zu Grünerløkka war keinem Trend unterworfen. Er war nicht frisch verliebt in die winzigen, überfüllten Bars und Cafés in der Thorvald Meyers gate. Billy T. lebte am Rande der Løkka-Gemeinschaft, wie sie sich während der vergangenen vier oder fünf Jahre herausgebildet hatte. Und deshalb fühlte er sich alt. Nie war er im Sult gewesen, um eine Stunde auf einen Tisch zu warten. In der Bar Boca, in die er sich einmal getraut hatte, um ein Glas Cola zu trinken, hatten ihm nach einigen klaustrophobischen Minuten am Tresen die Augen gebrannt. Billy T. ging lieber mit seinen Kindern zu McDonald’s gegenüber. Die Welt vor den Fenstern
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