Das Letzte Plädoyer: Roman
Sie eigentlich die ganze Zeit Handschellen zu tragen. Angesichts der Umstände und weil Sie in den vergangenen zwei Jahren ein vorbildlicher Gefangener waren und Sie ja auch in einigen Monaten entlassen werden, werde ich von meinem Vorrecht Gebrauch machen und Ihnen gestatten, nach Überschreiten der Grenze zu Schottland die Handschellen abzulegen. Außer Mr. Pascoe oder Mr. Jenkins hätten Grund zu der Annahme, dass Sie zu fliehen versuchen oder ein Verbrechen planen. Ich bin sicher, ich muss Sie nicht daran erinnern, Moncrieff, dass ich dem Bewährungsausschuss von einer vorzeitigen Entlassung am« – er warf einen Blick in Nicks Akte – »am siebzehnten Juli abraten muss, sollten Sie meine Entscheidung auszunutzen versuchen, und dass Sie dann Ihre volle Strafe abzusitzen hätten, also weitere vier Jahre. Haben Sie das begriffen, Moncrieff?«
»Ja. Dankeschön, Governor«, sagte Nick.
»Dann bleibt mir nichts weiter zu sagen, als dass ich Ihnen zum Tod Ihres Vaters mein Beileid ausspreche und hoffe, dass Sie einen friedvollen Tag verleben werden.« Michael Barton erhob sich und fügte hinzu: »Es tut mir sehr leid, dass dieses traurige Ereignis nicht nach Ihrer Entlassung stattfinden konnte.«
»Danke, Governor.«
Barton nickte und Mr. Pascoe und Mr. Jenkins führten den Gefangenen ab.
Der Direktor runzelte die Stirn, als er den Namen des nächsten Gefangenen las, der zu ihm vorgelassen werden sollte. Auf diese Begegnung freute er sich nicht.
Während der Vormittagspause übernahm Danny Nicks Pflichten als Gefängnisbibliothekar, stellte frisch zurückgegebene Bücher wieder an ihren Regalplatz und stempelte das Datum in die Bücher, die die Gefangenen auszuleihen wünschten. Nachdem er damit fertig war, nahm er eine Ausgabe der
Times
vom Zeitungsregal und setzte sich. Jeden Morgen wurden diverse Zeitungen an das Gefängnis ausgeliefert, man durfte sie aber nur in der Bibliothek lesen: sechs Ausgaben der
Sun
, vier Ausgaben des
Mirror
, zweimal die
Daily Mail
und eine einzige Ausgabe der
Times
– Danny fand, dass sich in diesem Verhältnis die Vorlieben der Gefangenen sehr gut widerspiegelten.
Seit einem Jahr las Danny jeden Tag die
Times
. Anders als Nick konnte er das Kreuzworträtsel immer noch nicht lösen, aber er verbrachte ebenso viel Zeit mit dem Wirtschaftsteil wie mit den Sportseiten. Doch dieser Tag war anders. Er blätterte die Zeitung durch, bis er zu einem Teil kam, den er bislang nie gelesen hatte.
Der Nachruf auf Sir Angus Moncrieff, Baronet, Träger des Military Cross und des Order of the British Empire, erstreckte sich über eine halbe Seite, auch wenn es nur die untere Hälfte war. Danny las die Einzelheiten seines Lebens nach, von den Tagen an der Loretto School, gefolgt von seiner militärischen Ausbildung in Sandhurst, nach der er als Leutnant zu den Cameron Highlanders kam. Nachdem ihm das Military Cross für seinen Einsatz in Korea verliehen worden war, wurde Sir Angus Oberst des Regiments und erhielt 1994 den Order of the British Empire. Im letzten Absatz stand, dass seine Frau 1970 gestorben war und der Titel nun an ihren einzigen Sohn, Nicholas Alexander Moncrieff, überging. Danny nahm das Lexikon zur Hand, das immer in seiner Nähe war, und schlug die Bedeutung von Baronet, Military Cross und Order of the British Empire nach. Er lächelte bei dem Gedanken, wie er Big Al erzählen würde, dass sie ihre Zelle jetzt mit einem Ritter teilten, mit
Sir Nicholas Moncrieff, Baronet
.
»Bis nachher, Nick!«, rief eine Stimme, aber der Gefangene hatte die Bibliothek schon verlassen, bevor Danny seinen Irrtum klarstellen konnte.
Danny spielte mit dem Messer an der silbernen Kette und wünschte sich, wie Malvolio, dass er jemand sein könnte, der er nicht war. Es erinnerte ihn daran, dass er bis zum Ende der Woche seine Erörterung über
Was ihr wollt
bei Miss Watkins abzugeben hatte. Er dachte an den Irrtum, der seinem Mitgefangenen unterlaufen war, und fragte sich, ob er vor Nicks Schülern damit durchkommen würde. Danny faltete die
Times
, legte sie wieder auf das Regal und ging dann quer über den Flur zur Fortbildungsabteilung.
Die Gruppe von Nick saß bereits wartend an ihren Tischen. Offenbar hatte ihnen niemand gesagt, dass ihr üblicher Lehrer auf dem Weg nach Schottland war, um der Beerdigung seines Vaters beizuwohnen. Danny marschierte kühn durch den Raum und lächelte die zwölf erwartungsvollen Gesichter an. Er knöpfte sein blau-weiß gestreiftes Hemd auf,
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