Das Letzte Protokoll
zwischen den Bäumen an der südlichen Landspitze von Waytansea, verliert sich die D i vision Avenue in Kies und Schlamm.
Die Beschreibung ist nicht schlecht. So sieht der Hafen aus, wenn man zum ersten Mal mit der Fähre vom Festland dort a n kommt. Lang und schmal, gleicht der Hafen dem Maul eines Fischs, der wie in der Bibel nur darauf lauert, einen zu verschli n gen.
Wenn du einen Tag lang Zeit hast, kannst du die Division Av e nue einmal ganz abschreiten. Im Hotel Waytansea frühst ü cken, dann in südlicher Richtung losziehen, an der Kirche in der Aider Street vorbei. Am Haus der Wilmots vorbei, dem einzigen in der East Birch, ein Haus mit sechs Hektar Rasen bis hinunter ans Meer. Am Haus der Bu r tons in der East Juniper vorbei. Kleine Eichenwäldchen, jeder Baum krumm und groß wie ein moosb e deckter Blitzstrahl. Der Himmel über der Div i sion Avenue: im Sommer grün vom dichten, wehenden Laub der Ahor n bäume, Eichen und Ulmen.
Du kommst zum ersten Mal hierher und denkst, alle deine Hoffnungen und Träume sind wahr geworden. Hier wirst du glücklich bis ans Ende deiner Tage leben.
Die Sache ist die: Für ein Kind, das immer nur in einem Haus auf Rädern gewohnt hat, sieht das hier aus wie ein sicherer Z u fluchtsort, an dem es, geliebt und umsorgt, für immer leben kann.
Für ein Kind, das immer nur mit einer Schachtel Buntsti f te auf einem Zottelteppich gesessen und Bilder von diesen Häusern gemalt hat, von Häusern, die es nie gesehen hat. Nur Bilder d a von, wie es sich diese Häuser mit ihren Veranden und bu n ten Fenstern vorgestellt hat. Für dieses kleine Mädchen, das diese Häuser eines Tages leibhaftig vor sich gesehen hat. Genau diese Häuser. Häuser, von denen es dachte, es habe sich die nur au s gedacht...
Seit sie zu zeichnen angefangen hatte, kannte die kleine Misty Marie die feuchten Geheimnisse der Klärbehälter hinter jedem dieser Häuser. Sie wusste, dass die Stromleitungen in den Ma u ern alt waren, mit Stoff isoliert, durch Porzellanröhren gezogen und um Porzellanknöpfe gew i ckelt. Sie konnte die Innenseite jeder Haustür malen, an der die Inselfamilien Namen und Größe ihrer Kinder ve r zeichneten.
Schon vom Festland aus, vom Anlegeplatz der Fähre in Long Beach über drei Meilen Salzwasser hinweg, erscheint die Insel als Paradies. Die Pinien so dunkelgrün, dass sie wie schwarz auss e hen. Die Wellen, die sich an den bra u nen Felsen brechen: Das alles ist die Erfüllung aller ihrer Wünsche. Behütet. Still und ei n sam.
Heute wirkt die Insel auf viele Leute so. Viele reiche Fremde.
Für dieses Kind, das nie in etwas Größerem geschwo m men war als im Schwimmbecken der Wohnwagenkolonie, geblendet von zu viel Chlor, was bedeutete es für diese Kleine, auf der Fähre in den Hafen von Waytansea einzulaufen, die Vögel singen zu h ö ren, die Sonne sich in den endlosen Reihen der Hotelfenster spiegeln zu sehen. Den Ozean an die Wellenbrecher laufen zu hören, die Sonne so warm und den Wind so rein in ihrem Haar zu sp ü ren, die Rosen in voller Blüte zu riechen . .. Thymian und Rosm a rin . ..
Dieses bedauernswerte Mädchen, das noch nie das Meer ges e hen hatte, hatte die Landzungen und Klippen hoch über der Felsküste alle schon gemalt. Und zwar perfekt.
Die arme kleine Misty Marie Kleinman.
Das Mädchen kam als Braut hierher, und die ganze Insel e r schien zu ihrer Begrüßung. Vierzig, fünfzig Familien, alle wart e ten sie mit fröhlichen Gesichtern, bis sie ihr die Hand schütteln konnten. Ein Chor von Grundschulkindern sang für sie. Sie wa r fen Reis. Im Hotel gab es ihr zu Ehren ein großes Festessen, und alle tranken ihr mit Champagner zu.
Auf dem Hügel über der Merchant Street stand das Hotel W a ytansea und die Fenster in allen sechs Stockwerken, die Re i hen von Fenstern und verglasten Veranden, die Zickzacklinien der Gauben in dem steilen Dach - sie alle beobachteten ihre Ankunft. Alle beobachteten ihren Ei n zug in eines der großen Häuser im schattigen, von Bä u men umsäumten Bauch des Fischs.
Ein einziger Blick auf Waytansea Island genügte, und Misty Kleinman wusste, dass es das alles wert war, ihre proletarische Mutter zu verlassen. Die Hundehaufen und den Zottelteppich. Sie schwor sich, nie wieder einen Fuß in die Wohnwagenkol o nie zu setzen. Ihren Plan, Malerin zu werden, gab sie vorläufig auf.
Die Sache ist die: Als Kind, oder auch wenn man etwas älter ist, zwanzig vielleicht, und an der Kunstakademie eingeschri e ben, hast du
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