Das Letzte Protokoll
Buntstift in der Hand hatte, malt sie nichts anderes.
So lange dieses Mädchen auf der Welt ist, ist seine Mutter vie l leicht noch nie zu Hause gewesen. Ihren Dad hat sie nie kennen gelernt, und vielleicht hat ihre Mutter zwei Jobs. Einen in einer beschissenen Fabrik für Dämmstoffe, einen in einer Kranke n hauscafeteria. Natürlich träumt das Mädchen von e i nem Ort wie dieser Insel, wo niemand arbeitet, wo man höchstens im Hau s halt zu tun hat oder mal Blaubeeren pflückt oder Strandgut sammelt. Tasche n tücher bestickt. Blumensträuße arrangiert. Wo die Tage nicht mit dem Wecker beginnen und mit dem Fernseher enden. Sie hat sich diese Häuser ausgemalt, jedes dieser Häuser, jedes Zimmer, die verzierte Umrandung jedes einzelnen Kamins. Das Muster der Parkettböden. Einfach so ausgedacht. Die Fo r men sämtlicher Lampen und Wa s serhähne. Sämtliche Fliesen. Sie malte sich das alles aus, spät abends. Die Tapetenmuster. Die Dachschindeln, die Treppen, die Regenrohre: alles mit Pastellsti f ten gezeic h net, mit Buntstiften ausgemalt. Die rot gepflasterten Bürgersteige, die Buch s baumhecken, alles von ihr skizziert. Rot und Grün mit Wasse r farbe ausgefüllt. Sie hat das alles gesehen, sich ausgemalt, davon geträumt. So sehr hat sie sich danach g e sehnt.
Seit sie einen Stift in der Hand halten kann, hat sie nie etwas anderes gezeichnet.
Denk dir diesen Fisch mit dem Schädel nach Norden und dem Schwanz nach Süden. Das Rückgrat mit den sec h zehn Rippen, die nach Westen und Osten zeigen. Der Schädel ist der Dor f platz, das Fischmaul der Fährhafen. Das Auge ist ein Hotel, umgeben vom Lebensmittelladen, vom Haushaltswarengeschäft, von B ü cherei und Kirche.
Sie hat die Straßen mit Raureif auf den kahlen Bäumen gemalt. Sie hat sie in der Jahreszeit gemalt, in der die Vögel zurückko m men und Strandgras und Kiefernnadeln sammeln, um Nester zu bauen. Dann mit blühendem Fi n gerhut, größer als Menschen. Dann mit noch größeren Sonnenblumen. Dann zur Zeit des Laubfalls, der Erdboden dick mit Walnüssen und Kastanien b e streut.
Sie sah das alles überaus deutlich vor sich. Jedes Zimmer in j e dem einzelnen Haus.
Und je besser sie sich diese Insel vorstellen konnte, desto wen i ger gefiel ihr die wirkliche Welt. Je besser sie sich die Leute vo r stellen konnte, desto weniger gefielen ihr die wirklichen Leute. Am wenigsten ihre Hippiemutter, die immer müde war und nach Fritten und Zigaretten roch.
Das ging so weit, bis Misty Kleinman die Hoffnung aufgab, j e mals glücklich zu werden. Alles war hässlich. Alle Menschen w a ren abstoßend, waren einfach . .. schlecht.
Ihr Name war Misty Kleinman.
Falls sie nicht da sein sollte, wenn du das liest: Sie war deine Frau. Falls du dich nicht bloß dumm stellst - deine arme Frau ist als Misty Marie Kleinman zur Welt geko m men.
Das arme schwachsinnige Mädchen. Wenn sie ein Lage r feuer am Strand malte, hatte sie den Geschmack von Mais und gekoc h ten Krabben im Mund. Wenn sie einen Kräutergarten malte, schmec k te sie Rosmarin und Thymian.
Aber je besser sie zeichnen konnte, desto schlechter wurde ihr Leben - bis nichts in ihrer wirklichen Welt ihr mehr gut genug war. Das ging so weit, dass sie nirgends mehr hingehörte. So weit, dass niemand mehr gut genug war, edel genug, wirklich genug. Nicht die Jungen in der Highschool. Nicht die anderen Mädchen. Nichts war so wirklich wie ihre Fantasiewelt. Das ging so weit, dass sie zur Schulpsychologin musste und Geld aus dem Portemonnaie ihrer Mutter stahl, um Drogen zu ka u fen.
Damit die Leute sie nicht für verrückt hielten, machte sie die Kunst zum Zentrum ihres Lebens, und nicht ihre Fa n tasien. Im Grunde wollte sie nur die Fähigkeiten erwerben, diese aufz u zeichnen. Um ihre Fantasiewelt immer genauer darstellen zu können. Wirklicher.
Und auf der Kunstakademie lernte sie Peter Wilmot kennen. Das warst du, ein junger Mann aus Waytansea Island.
Und als du, von irgendwo sonst auf der Welt kommend, zum ersten Mal diese Insel siehst, glaubst du, du bist tot. Du bist tot und im Himmel, endlich und für immer in S i cherheit.
Das Rückgrat des Fischs heißt Division Avenue. Die Rippen sind Seitenstraßen, die erste, eine Häuserzeile südlich des Dor f platzes, heißt Aider Street. Dann kommen Birch Street, Cedar Street, Dogwood Street, Elm Street, Fir Street, Gum Street, Hor n beam Street und so weiter im Alphabet bis Oak Street und Poplar Street kurz vor dem Schwanz des Fischs. Dort,
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