Das letzte Relikt
Heranrollen der Wellen am Meeresstrand.
Er war sich nicht sicher, wie viel Zeit verstrichen war, als er hörte, wie die Tür zu seinem Zimmer geöffnet und wieder geschlossen wurde. Waren es fünf Minuten? Eine halbe Stunde? Durch die dicke Folie sah er eine Gestalt vor dem van Gogh stehen. Es war nicht Monica, so viel war sicher, und es war auch nicht Dr. Baptiste. Die Gestalt war hochgewachsen und ganz in Schwarz gekleidet.
Ihm stockte der Atem.
Es war ein Mann, sehr blass, mit blonden, nein leuchtend goldenen Haaren.
Ich bin gekommen, um dir zu danken,
hörte Russo, wobei er nicht sicher war, ob der Mann tatsächlich gesprochen hatte oder ob die Worte einfach nur irgendwie in seinen Kopf gelangt waren.
Russo streckte die Finger auf dem kühlen Bettlaken aus und suchte nach dem roten Knopf, mit dem er die Schwester rufen konnte. Aber er war nicht dort. Monica musste ihn verlegt haben, als sie seine Verbände gewechselt hatte.
Ich wünschte, ich könnte es dir vergelten.
Du könntest mir die Schmerzen nehmen,
dachte Russo und fragte sich, ob seine Gedanken wohl ebenfalls den Empfänger erreichten. Zugleich überlegte er, ob das alles womöglich nur ein ungewöhnlich lebhafter Morphintraum war.
Die Gestalt kam näher, und durch das Plastik des Sauerstoffzelts erkannte Russo, dass sie eine kleine bernsteinfarbene Sonnenbrille trug. Das lange Haar war gleich goldenen Flügeln aus der Stirn gestrichen. Die Gestalt zog einen Stuhl neben das Bett und setzte sich.
Russos Herz erfüllte sich mit Grauen. Das musste Arius sein, der gefallene Engel, wie Ezra ihn beschrieben hatte. Die Gestalt aus Licht, die in jener entsetzlichen Nacht dem Felsblock entstiegen war.
Du weißt, wer ich bin.
Erneut tasteten Russos Finger blindlings nach dem Rufknopf, doch stattdessen erwischten sie den Morphinknopf. Er gab sich selbst eine weitere Dosis. Wenn das ein Traum war, brauchte er vielleicht nur noch tiefer einzutauchen, um ihm zu entkommen.
Aber bin ich der Einzige?
»Ich hoffe es«, sagte Russo. Unter dem Sauerstoff klangen die Worte gedämpft.
Arius stutzte, als überlegte er, wie er das zu verstehen hatte. Dann hallten die Worte
Erinnerst du dich, was ich dir einmal sagte?
in Russos Kopf wider.
Arius streckte den Arm aus und berührte Russos Hand, mit der er nach dem Rufknopf suchte. Mit etwas, das sich anfühlte wie eine Kralle, kratzte er einen Streifen der verbliebenen schmerzempfindlichen Haut ab. Russo stöhnte, aber auch dieses Geräusch wurde von dem Plastik und dem ständigen Murmeln des Sauerstofftanks gedämpft.
Leiden ist ein Geschenk Gottes.
Russo streckte die Hand, die nur noch aus Schmerz zu bestehen schien, zum Nachttisch neben dem Bett aus. Arius verfolgte seine Anstrengungen, und als Russo Mühe hatte, die Schublade zu öffnen, übernahm er es zuvorkommend für ihn.
Mit bebenden Fingern tastete Russo das Innere ab und umklammerte schließlich das hölzerne Kruzifix, das er darin verwahrte. Er zog es heraus und streckte es Arius entgegen. Sein verbrannter Arm zitterte.
»Weißt du … was das ist?«, stieß Russo hervor. »Jesus Christus … unser Retter.«
Gelangweilt griff Arius danach und nahm ihm das Kreuz fort.
Dann lass dich von ihm retten
. Er wollte es gerade wegwerfen, doch dann, als hätte er es sich anders überlegt, schob er es stattdessen in die Tasche seines Mantels.
Unter dem Plastikzelt sank Russo zurück in sein Kissen. Er konnte an nichts anderes denken und nichts anderes tun, als zu hoffen, dass jemand, irgendjemand, plötzlich ins Zimmer käme.
»Wie viele von euch«, fragte Arius, »wissen von mir?«
Dieses Mal hatte Russo ihn eindeutig sprechen hören. Die Worte waren in der Luft, nicht in seinem Kopf. Und so entsetzt, wie er war, empfand er die Stimme, die Stimme dieses gefallenen Engels, als klangvoll, beinahe tröstend.
»Nicht viele.«
Arius nickte nachdenklich.
Russo wagte zu fragen: »Aber warum … bist du hier?« War es alles nur ein Versehen, vielleicht das entsetzlichste Missgeschick, das der Menschheit je zugestoßen war?
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Arius: »Alles geschieht zu einem bestimmten Zweck. Vielleicht war es deine Aufgabe, mich zu befreien.«
Diese Vorstellung war fast zu grauenhaft für Russo, um auch nur darüber nachzusinnen. Der Judas des einundzwanzigsten Jahrhunderts – sollte
das
seine Bestimmung sein?
»Meine ist es vielleicht, mich zu vermehren.«
Russo musste einen Moment nachdenken, um das Wort zu
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