Das letzte Relikt
blätterte zurück zum Brief. Dort räumte Joe ebenfalls ein, dass er mit der üblichen Radiocarbon-Methode nicht weiter vorankam.
Als nächsten Schritt hätte Carter die umgebende Gesteinsformation der Fundstelle analysiert, um anhand des Alters und der Zusammensetzung des Felsens, in den der Fund eingebettet war, herauszufinden, um was für ein Fossil es sich handelte oder handeln könnte. Offensichtlich war Joe zu demselben Schluss gekommen. »Die Ergebnisse der Untersuchung des umgebenden Felsens befinden sich im Anhang B.«
Wieder überprüfte Carter Joes Arbeit, und wieder konnte er keine offenkundigen Fehler oder Versäumnisse entdecken. Joe hatte die Arbeiten genau nach Lehrbuch erledigt. Trotzdem waren die Ergebnisse auch dieses Mal absolut rätselhaft. Das Felsgestein war vulkanischen Ursprungs und stark mit Pyroxenen durchsetzt, so viel war klar. Doch dem erstaunlich hohen Anteil an Silizium, seiner Streifung und Dichte nach zu urteilen, war es aus einem nahezu unglaublich tiefen und heißen Bereich der Erdkruste spiralförmig an die Oberfläche gedrückt worden. Im Inneren des Felsens, gleichsam als Mahnung an diesen gewundenen Weg von der Asthenosphäre durch die äußere Kruste hindurch, fand sich eine ungewöhnlich hohe Konzentration eingeschlossener, flüchtiger Gase. Carter ließ sich in seinem Sessel zurücksinken und dachte kurz darüber nach. Im Endeffekt hatten sie es hier mit einer unermesslich beständigen und dichten Gesteinsprobe zu tun, die wie eine selbstgebastelte Bombe vor den Augen explodieren konnte, wenn man sie nicht richtig behandelte. Wie eine ziemlich gewaltige selbstgebastelte Bombe.
Kein Wunder, dass Joe zögerte weiterzumachen, ehe er sich ausgiebig mit Kollegen beraten hatte.
Das Problem lag darin, einen Weg zu finden, das Fossil in einem möglichst intakten Zustand aus dem explosiven Gestein zu entfernen, mit dem es unter Umständen unlösbar verbunden war, ohne die Bombe zu zünden.
»In der Pappmappe«, schrieb Joe, »findest du Fotos von dem Fossil
in situ
.«
Darauf hatte Carter gewartet. Als die Fotos ihm entgegengefallen waren, hatte er sie absichtlich wieder zurückgelegt. Er wollte sie nicht ansehen, ehe er das übrige Material gesichtet hatte und wusste, womit er es zu tun hatte. Inzwischen wusste er, was bereits feststand, und was, in diesem besonderen Fall, noch in der Schwebe hing, und erst jetzt war er bereit, einen Blick auf die sichtbaren Beweise zu werfen und sich selbst ein Bild davon zu machen. Er beugte sich vor und öffnete die Mappe auf dem Tisch.
Das oberste Bild war so wunderschön, dass es aus einer Reisebroschüre hätte stammen können. Im Vordergrund sah man nichts als blaues Wasser mit kleinen Wellen, und im Hintergrund eine Wand aus schroffen grauen Klippen mit vom Wind gebeugten Zypressen. Auf Seehöhe lag der Eingang einer Höhle, die immer noch teilweise unter Wasser lag und auf dieser Aufnahme kaum zu erkennen war. Carter schaute auf die Rückseite des Fotos, wo Joe das Datum notiert und dazugeschrieben hatte: »Lago d’Averno, Höhle, aus etwa 150 Metern Entfernung.«
Carter legte das Bild mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch und nahm das nächste zur Hand.
Bei diesem hatte der Fotograf sich der Höhle schon viel weiter genähert. Die Öffnung war rau und zerklüftet, und an einer Seite waren die Köpfe zweier Taucher mit Taucherbrillen und Schnorcheln zu sehen. Auf der Rückseite stand »Eingang zur Höhle«, was kaum nötig gewesen wäre, doch in Klammern war hinzugefügt: »Wusstest du, dass ich tauchen kann?« Carter lächelte. Nein, dass Joe tauchen konnte, war ihm neu.
Die nächsten Fotos zeigten das Innere der Höhle, die offensichtlich von einer starken Taschenlampe beleuchtet worden war. Die nassen Wände und Decken waren in helles Licht mit scharfem Schatten getaucht, und der Fels glitzerte wie Pyrit und Diamanten. Von dem Fossil hingegen sah Carter nichts.
Er nahm sich das nächste Bild, und dieses Mal stockte ihm der Atem. Im harten hellen Licht der Lampe, die teilweise in der linken oberen Ecke zu erkennen war, konnte er jetzt die vom Felsen eingeschlossenen Knochen erkennen. Er hatte Tausende solcher Fotos gesehen, von Fossilien aus allen Teilen der Welt, aber so etwas war ihm noch nie untergekommen. Unwillkürlich erinnerte ihn der Anblick an Michelangelos
Jüngstes Gericht
in der Sixtinischen Kapelle. Dieses Fossil mit den knotigen langen Klauen, oder Krallen, oder Fingern beschwor die Vorstellung von
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