Das letzte Relikt
bisher war das Schreiben vollkommen verständlich. Carter überflog den Rest des sechsseitigen, einzeilig bedruckten Briefes, ehe er wieder zum Anfang zurückblätterte.
Die Schilderung begann, seltsam genug, mit einem Bericht über die Wasserstände eines Ortes namens Lago d’Averno, von dem Carter noch nie gehört hatte. Offensichtlich war der Wasserspiegel des Sees auf den tiefsten Stand seit vielleicht mehreren Millionen Jahren gefallen. Eine Höhle, die die ganze Zeit unter Wasser gelegen hatte, möglicherweise sogar Hunderte von Metern tiefer als heute, war durch die seismischen Aktivitäten in dieser Region langsam nach oben geschoben und so zum ersten Mal zugänglich gemacht geworden. Ein junges amerikanisches Paar waren die Ersten, die zufällig darauf stießen. In Klammern hatte Joe hinzugefügt, dass der Mann dort verunglückte und ertrank.
In dieser Höhle hatte man eine versteinerte Kreatur entdeckt. Joe entschuldigte sich für den Gebrauch des vagen Begriffs
Kreatur
, erklärte jedoch, dass genau diese Ungewissheit der Grund dafür sei, warum er seinen alten Freund Carter in erster Linie kontaktiere. »Aus den Teilen des Fossils, die wir sehen können, ist es nicht klar, womit wir es zu tun haben.« Es gäbe etwas, das aussähe wie erweiterte Klauen, fuhr der Brief fort, was die Vermutung nahelegte, dass es sich um ein Raubtier mittlerer Größe handelte, aber diese Klauen schienen ebenso über deutlich ausgebildete Mittelhandknochen und Fingerglieder zu verfügen. Merkmale also, die nur auf einen hominiden Vorfahren hindeuten konnten. »Aber ein Hominid, der im evolutionären Zeitplan viel zu alt ist, um möglich zu sein.«
Carter verstand bereits, warum Joe so verwirrt war. Aber warum unterzogen sie die Probe nicht einem einfachen Carbon- 14 -Test und warteten ab, was dabei herauskam? Damit hätte Carter angefangen.
Doch offensichtlich hatte Joe das auch getan. Schon im nächsten Absatz las Carter: »Wie man es erwarten darf, haben wir die vorschriftsmäßigen Radiocarbon-Datierungen durchgeführt. Da wir hier keinen Zugang zu einem Beschleuniger-Massenspektrometer haben« – kurz AMS , die, wie Carter wusste, außerhalb der Vereinigten Staaten kaum zu finden waren –, »haben wir fünf Gramm reinen Kohlenstoff vom Ausgangsmaterial isoliert und wiederholt Untersuchungen damit durchgeführt. Die Laborberichte dieser Testreihe sind beigefügt, siehe Anhang A.«
Carter blätterte in den Unterlagen, bis er den Anhang gefunden hatte. Es war die typische Darstellung, ein komplexes Diagramm mit den elementaren Zusammensetzungen und Zerfallsraten der Isotope, aber Carters Finger flog über die Seiten, bis er zu den Ziffern kam, nach denen er gesucht hatte, der abschließenden Altersschätzung. Und diese Zahl, das stimmte, ergab absolut keinen Sinn. Die Methode funktionierte,
wenn
sie funktionierte, weil das Radiocarbon-Isotop Carbon- 14 , das in allen organischen Stoffen vorhanden war, egal ob es sich um Holz, Pflanzenfasern, Muscheln oder Tierknochen handelte, gleichmäßig alle 5730 Jahre zu fünfzig Prozent zerfiel. Wenn man über eine ausreichend große Probe verfügte, wie beispielsweise die fünf Gramm, die Joe hatte, bekam man eine ziemlich genaue Schätzung über das Alter selbst der frühesten prähistorischen Funde. Die berühmten Höhlenmalereien von Lascaux zum Beispiel wurden auf 15 000 bis 17 000 Jahre geschätzt. Es gab immer eine kleine Fehlerspanne, da Carbon- 14 im Laufe der Geschichte nicht immer in gleichen Mengen produziert worden war, so dass die Radiocarbon-Datierung noch »korrigiert« oder »kalibriert« werden musste, um den chronologischen Schwankungen Rechnung zu tragen. Als Ergebnis blieb eine Diskrepanz von vielleicht ein paar hundert, in seltenen Fällen von ein paar tausend Jahren.
Doch selbst bei einem Spielraum von ein paar tausend Jahren ergaben Joes Berechnungen keinen Sinn, besonders dann nicht, wenn er immer noch erwog, dass es sich bei dem Fund möglicherweise um einen Hominiden handelte. Dieses Fossil vom Lago d’Averno hatte laut der Radiocarbon-Datierung vor Millionen von Jahren gelebt, lange bevor die allerersten Vorfahren der Menschheit auf der Erde herumliefen oder auch nur krochen.
Obwohl er noch nicht genau bestimmen konnte, wo sich der Fehler eingeschlichen hatte, entschied Carter, dass die Ergebnisse so fehlerhaft sein mussten, dass sie nutzlos waren. Es blieb nichts anderes übrig, als sie vollkommen außer Acht zu lassen.
Er
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