Das letzte Relikt
Missverständnis mehr geben, egal wie unglaubwürdig es war. »Versuchst du mir zu sagen, dass das Fossil gelebt hat?«
Schon wieder falsch. Joe stöhnte und runzelte die Stirn. Die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er den Stift ein weiteres Mal aufnahm und etwas zwischen die beiden anderen Wörter auf der Tafel kritzelte. Als Carter die komplette Nachricht las, lautete sie:
Fossil ist lebendig.
Carter wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich heute noch weiter mit Joe zu unterhalten. Sein Freund musste unter dem Einfluss der Medikamente stehen. Und das war wahrscheinlich auch das Beste für ihn.
»Okay«, sagte Carter. »Ich habe verstanden.« Er nickte zur Bestätigung. »Die Ärztin hat gesagt, dass ich nicht länger als fünf Minuten bleiben darf, aber morgen früh komme ich als Erstes hierher.«
Carter legte die Tafel und den Stift auf den Nachttisch neben dem Bett. Als er Joe erneut anschaute, sah sein Freund erschöpfter und gequälter aus als je zuvor. Carter befürchtete, dass er mit seinem Besuch mehr Schaden angerichtet als Gutes getan hatte.
»Mach dir keine Sorgen um das Fossil oder das Labor oder irgendetwas«, sagte er. »Versuch jetzt einfach nur zu schlafen.«
Carter wandte sich vom Bett ab. Obwohl er den Gedanken hasste, musste er zugeben, dass es eine Erleichterung war, Joe nicht länger anblicken zu müssen, und sei es auch nur für eine Sekunde. Am Vorhang schaute er noch einmal zurück. Russo hatte den Blick in seine Richtung gelenkt. Zum Abschied hob er die Hand, aber es gab keine Reaktion. Und er hatte den Eindruck, dass Russo ihn nicht einmal sah. Er starrte an ihm vorbei, durch ihn hindurch, in etwas sehr Dunkles und sehr Tiefes.
19 . Kapitel
Der Leichnam war bewegt worden. Im Schatten verborgen hatte er zugesehen, wie er zugedeckt und hinausgetragen wurde.
Was würden sie mit ihm machen? Warum taten sie all das?
Er wurde unter die blitzenden Lichter gelegt und eilig fortgebracht.
So viele von ihnen.
Er konnte es immer noch nicht begreifen.
Auf dieser Welt wimmelte es von Leben, überall um ihn herum.
Er atmete ein, schmeckte die Luft.
Geschmäcker und Gerüche, die er nicht kannte, die er noch nicht wiedererkannte. Aber bald würde er es können. Er lernte bereits.
Von einem dunklen Winkel aus beobachtete er den Ort, an dem er freigelassen worden war. Wenn er an dieser Stelle freigekommen war, waren vielleicht noch andere hier gefangen.
Andere wie er.
Er hatte zugesehen, wie Männer, immer mehr von ihnen, gekommen und gegangen waren. Sie trugen Werkzeuge und Lichter und überfluteten den Ort mit Wasser. Schließlich wurde der Rauch weniger. Durch Beobachtung lernte er rasch. Und begriff schnell, was sie taten.
So ging es immer weiter, die ganze Nacht lang, und dann ging die Sonne auf, und er hatte sich erneut zurückgezogen, noch weiter in den dunklen Eingang. Er hatte den roten Mantel vor sein Gesicht gezogen. Und gewartet. Einen Wimpernschlag lang, so schien es, hatte er gewartet. Nicht länger. Und dann war es wieder dunkel.
Während seiner Wache hatte er einen Mann kommen sehen, an den Ort, an den jetzt keiner mehr kam, und er hatte ihn wieder gehen sehen. Der Mann war davongerannt, sein Geruch voll Furcht und Trauer, und weil es wieder Nacht war, hatte er ihm mit Leichtigkeit folgen können. Durch die Straßen. Die Lichter. Die Menschen.
So viele von ihnen.
Und zu einem Ort nicht weit entfernt.
Wo der andere, wie er jetzt wusste, festgehalten wurde.
Derjenige, dem gesagt worden war, sein Leiden sei ein Geschenk.
Derjenige, der noch am Leben war.
Waren das seine Feinde,
fragte er sich,
oder seine Freunde?
Die Luft. Die Luft hier war schwer und roch stark. Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein Zaun mit verdrillten Drähten, gleich einem Käfig, und hinter den Drähten war ein anderer Ort – ein Gebäude. Niemand war darin, das wusste er. Es war aus Steinen gemacht, rot wie sein Mantel, hatte Öffnungen, die mit Holz und glitzerndem, zerbrochenem …
Glas
bedeckt waren. Glas, das war es.
Er lernte. Er hatte das Wort gehört, die Männer an dem Ort, an dem er befreit worden war, hatten es benutzt. Er hatte nur beobachtet … und zugehört. Einst war Sprache eine Gabe gewesen, die seinesgleichen gespendet hatten. Jetzt, sinnierte er, wurde sie ihm zurückgegeben. Genau so sollte es sein. Es passte.
Die Dämmerung begann sich über den Himmel auszubreiten. Er wandte sich den verdrillten Drähten zu und zog sie auseinander. Mit den schmalen, nahezu
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