Das letzte Relikt
Schuld ist. Du hast nichts falsch gemacht.«
Er reagierte nicht.
»Es war ein Unfall. Ein furchtbarer, unvorhersehbarer Unfall.«
Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Sie wusste, dass er sie gehört hatte, aber sie wusste auch, dass das, was sie gesagt hatte, kaum einen Eindruck hinterlassen hatte. Vielleicht würde er eines Tages in der Lage sein, die Schuldgefühle abzulegen, aber heute, das spürte sie instinktiv, war es dazu noch zu früh.
Die Tür zur Intensivstation öffnete sich mit einem leisen Summen, und eine junge Ärztin steuerte auf sie zu. Sie hatte das Haar zu einem Knoten gebunden, und ihre Haut hatte die Farbe von Zimt. Carter blickte zu ihr auf, mit mehr Grauen als Hoffnung im Blick.
Die Ärztin musste es gesehen haben, denn sie nickte rasch und lächelte ihm kurz zu. »Erwarten Sie nicht zu viel«, sagte sie, »aber Ihr Freund ist wieder bei Bewusstsein.«
Carter brauchte eine Sekunde, um diese Neuigkeit zu verdauen.
»Das ist doch eine gute Nachricht, oder?«, sagte Beth. »Ich meine, wenn er jetzt wach ist und spricht …«
»Ich habe nicht gesagt, dass er schon spricht«, unterbrach Dr. Baptiste sie. »Sind sie eine Verwandte?«, fragte sie Beth. In ihrer Stimme schwang das leichte Trällern eines karibischen Akzents mit.
»Nein, das ist mein Mann«, sagte sie und drückte Carters Schulter. »Wir sind seine Freunde.«
»Die einzigen, die er in diesem Land hat«, fügte Carter hinzu.
»Dann sollten Sie auf jeden Fall versuchen, sich mit seiner Familie in Verbindung zu setzen, wo immer sie lebt. Es kann jederzeit sein, dass jemand Entscheidungen treffen muss.«
»Entscheidungen?«, sagte Beth.
»Über seine Pflege und Behandlung.«
»Können Sie nicht mit Joe selbst reden … über was auch immer?«, fragte Carter.
»Sie müssen verstehen, dass Ihr Freund sich immer noch in einem kritischen Zustand befindet. Wir können nicht darauf zählen, dass er lange genug klar bleibt, um fundierte Entscheidungen zu treffen. Im Moment konzentrieren wir uns lediglich darauf, ihn zu stabilisieren und stabil zu halten. Später, wenn wir die Gelegenheit hatten, alle Verletzungen neu zu beurteilen, werden wir entscheiden, wie wir weitermachen. Er hat Verbrennungen dritten Grades an mindestens fünfundzwanzig Prozent der Körperoberfläche erlitten.«
Verbrennungen dritten Grades? Soviel Beth wusste, waren das die schlimmsten Brandwunden, die möglich waren.
»Aber im Moment«, sagte Dr. Baptiste zu Carter, »wird es ihm wahrscheinlich helfen, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Möchten Sie jetzt zu ihm? Sie dürfen aber nur ein paar Minuten bleiben.«
»Ja, auf jeden Fall«, sagte Carter und stand auf.
Beth wollte sich ebenfalls erheben, doch Dr. Baptiste bedeutete ihr, sitzen zu bleiben.
»Tut mir leid, aber wir können nur einen Besucher auf einmal auf die Station lassen.«
»Ich bleibe mit der Tasche hier«, sagte Beth zu Carter. »Geh schon.«
Dr. Baptiste ging voran, und Carter verschwand hinter den Glastüren der Intensivstation.
Fast sofort stellte Carter fest, dass die Luft sich hier kälter und frischer anfühlte als draußen auf dem Flur. Ein leises stetiges Summen war zu hören, das von den ganzen Maschinen und Geräten herrührte, die neben den Betten der verschiedenen Patienten standen. Bei der Stationszentrale, einem halbrunden Tresen mit schwach leuchtenden Monitoren, reichte Dr. Baptiste Carter eine Gesichtsmaske aus Papier.
»Wir müssen sicherstellen, dass die Situation nicht noch durch eine Infektion verkompliziert wird«, sagte sie. Carter zog die Maske über Mund und Nase. »Sie dürfen Mr Russo auch auf keinen Fall berühren. Keine Umarmung, kein Händeschütteln, nichts.«
Dann wandte sie sich um, und Carter folgte ihr zum anderen Ende der Station. Als sie sich dem letzten Bett näherten, das fast vollständig durch einen blickdichten Vorhang verdeckt war, spürte er sein Herz rasen. Wie würde Joe aussehen? Würde er klar genug sein, um Carter zu erkennen? Würde Carter selbst seinen alten Freund wiedererkennen, egal in wie vielen Bandagen er eingewickelt war? Er versteifte sich.
Dr. Baptiste stand bereits neben dem Bett und überprüfte einen der Infusionsschläuche. Davon gab es einige, zusammen mit einer ganzen Menge anderer Kabel und Schläuche, die mit den Monitoren und Maschinen neben und über dem Bett verbunden waren. Joe selbst war kaum zu sehen. Ein Laken schien zeltförmig ein paar Zentimeter über seinem Körper aufgespannt zu sein, nur sein
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