Das letzte Revier
den Sohlen ihrer stahlverstärkten Schuhe zu ziehen. ATF-Agenten machen sich dreckig. Sie treten in alle möglichen gesundheitsgefährdenden Dinge. Lucy schneidet das Seil oberhalb des Knotens ab und klebt die Enden mit dem Band wieder zusammen. »Ein simpler doppelter Kreuzknoten«, sagt sie und lässt Seil und Band zu mir herunterfallen. »Bloß ein oller Pfadfinderknoten, und das Ende des Seils ist geschmolzen. Wer immer es abgeschnitten hat, hat es geschmolzen, damit es sich nicht auflöst.« Das überrascht mich ein wenig. Ich würde nicht erwarten, dass jemand, der ein Seil abschneidet, um sich aufzuhängen, sich diese Mühe macht. »Nicht gerade typisch«, sage ich zu Lucy, als sie herunterkommt. »Weißt du was, ich werde selbst raufsteigen und mich umsehen.«
»Pass auf, Tante Kay. Es stehen ein paar rostige Nägel raus. Und zieh dir keine Splitter ein«, sagt sie. Ich frage mich, ob Benny diesen alten Hochsitz als Ausguck benutzt hat. Ich fasse eine verwitterte graue Sprosse nach der anderen und kämpfe mich nach oben, dankbar, dass ich Hose und Stiefel trage. In dem Hochsitz befindet sich eine Bank, auf die sich der Jäger setzen und warten kann, bis ein nichts ahnendes Reh in sein Sichtfeld schlendert. Ich überprüfe den Sitz, indem ich dagegen trete, aber er wirkt stabil, und ich setze mich. Benny war ungefähr so groß wie ich, so dass ich jetzt sehe, was er sah, vorausgesetzt er kam hier rauf. Ich glaube, dass er hier war. Irgendjemand war jedenfalls hier oben. Sonst würde auf dem Boden altes Laub liegen, was nicht der Fall ist. »Ist dir aufgefallen, wie ordentlich es hier oben ist?«, rufe ich zu Lucy hinunter. »Vielleicht wird er noch von Jägern benutzt«, erwidert sie. »Welcher Jäger macht sich die Mühe, um fünf Uhr früh den Boden zu fegen?« Von hier oben habe ich einen Rundumblick auf das Wasser und sehe die Rückseite des Motels und de n dunklen, schmutzigen Swimmingpool. Aus dem Kamin von Kiffins Haus steigt Rauch auf. Ich stelle mir vor, wie Benny hier oben saß und hin und wieder einen Blick hinüberwarf, während er zeichnete und vielleicht der Traurigkeit entkam, die er seit dem Tod seines Vaters verspürt haben muss. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Der Hochsitz war der ideale Ort für einen einsamen, kreativen Jungen, und einen Steinwurf entfernt steht am Rand des Bachs eine große Eiche, deren Stamm unten mit Kudzu bewachsen ist Vielleicht saß dort auf einem hohen Ast der Falke. »Ich glaube, dass er den Baum dort gezeichnet hat«, sage ich zu Lucy. »Und er hatte einen verdammt guten Blick auf den Campingplatz.«
»Vielleicht hat er etwas gesehen«, sagt Lucy. »Möglich«, erwidere ich grimmig. »Und er könnte gesehen worden sein«, füge ich hinzu. »Zu dieser Jahreszeit sind die Bäume kahl, vielleicht ist er hier oben gesichtet worden. Vor allem wenn jemand ein Fernglas und einen Grund hatte, in dieser Richtung Ausschau zu halten.« Noch während ich es ausspreche, geht mir durch den Sinn, dass jemand uns in diesem Augenblick beobachten könnte. Ich kriege eine Gänsehaut und steige wieder hinunter. »Du hast doch deine Waffe dabei, oder?«, frage ich Lucy, kaum bin ich unten. »Gehen wir diesen Weg entlang. Ich möchte wissen, wo er hinführt.« Ich hebe das Seil auf, rolle es zusammen und packe es in eine Plastiktüte, die ich in meine Manteltasche stecke. Das Band lege ich zurück in meinen Rucksack. Lucy und ich gehen los. Wir finden noch mehr Gewehrkugeln und sogar einen Pfeil. Wir dringen tiefer in den Wald ein, der Weg folgt dem Lauf des Bachs, kein Geräusch ist zu hören außer dem Ächzen der Bäume, wenn eine Windbö durch den Wald bläst, und dem Knacken der Zweige unter unseren Füßen. Ich möchte wissen, ob der Pfad uns zum anderen Ufer führt, und so ist es. Es sind fünfzehn Minuten bis zum Fort James Motel, und wir kommen zwischen dem Motel und der Route 5 aus dem Wald. Benny könnte nach der Kirche sehr gu t hierher gegangen sein. Ein halbes Dutzend Autos steht auf dem Motelparkplatz, ein paar davon Leihwagen, und neben dem Coca-Cola-Automaten ist ein großes Honda-Motorrad geparkt. Lucy und ich gehen auf das Haus der Kiffins zu. Ich deute auf den Zeltplatz, wo wir die Bettwäsche und den Kinderwagen gefunden haben, und verspüre eine Mischung aus Wut und Traurigkeit über Mr. Peanuts Schicksal. Ich argwöhne, dass Bev Kiffin etwas Grausames getan, den Hund vielleicht sogar vergiftet hat, und ich habe vor, sie unter anderem auch danach zu fragen.
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