Das Letzte Ritual
das ordentlich angelegte Inhaltsverzeichnis betrachtete. Die Mappe war mit Trennblättern in sieben Abschnitte unterteilt, in chronologischer Reihenfolge: Deutschland, Wehrdienst, Universität München, Universität Islands, Kontoauszüge, polizeiliche Ermittlung. Der siebte und letzte Abschnitt trug den Titel Obduktion. Sie beschloss, die Mappe chronologisch durchzuarbeiten. Sie schaute auf die Uhr; es war kurz vor zwei. Sie würde es kaum schaffen, sich alles bis fünf Uhr anzusehen. Dann musste sie ihre Tochter Sóley vom Hort abholen. Sie musste sich beeilen. Dóra stellte die Weckfunktion ihres Handys auf Viertel vor fünf. Sie nahm sich vor, bis dahin die wichtigsten Dokumente in der Mappe überflogen zu haben. Sie wollte die Unterlagen ungern mit nach Hause nehmen, obwohl das nicht selten vorkam, wenn viel zu tun war. Der Inhalt dieses Ordners war zweifellos nicht dazu geeignet, in einem Haushalt mit Kindern herumzuliegen. Sie blätterte das erste Trennblatt um und begann mit der Arbeit.
Das erste Blatt war eine beglaubigte Kopie der Geburtsurkunde. Darin stand, dass Frau Amelia Guntlieb am 18. Juni 1978 in München einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hatte. Als Vater war Herr Johannes Guntlieb, Bankdirektor, angegeben. Dóra kannte das Krankenhaus nicht. Dem Namen nach handelte es sich nicht um eines der großen städtischen Krankenhäuser, und sie vermutete, es war ein kostspieliges Privatkrankenhaus oder Geburtshaus für gut Betuchte.
Dóra blätterte weiter.
Die nächsten Seiten waren Plastikhüllen mit jeweils vier Fächern. In jedem Fach befand sich ein Foto; die meisten zeigten die Familie Guntlieb bei verschiedenen Gelegenheiten. Zu jedem Foto gehörte ein weißer Papierstreifen mit den Namen der abgebildeten Personen. Als Dóra auf die Schnelle alle Fotos durchblätterte, stellte sie eine Gemeinsamkeit fest: Harald war auf jedem Foto. Neben den Familienbildern gab es auch ein paar Schulfotos von Harald in verschiedenen Altersstufen, frisch gekämmt und herausgeputzt, wie es üblich ist. Dóra grübelte darüber nach, warum diese Fotos in der Mappe waren. Die einzige logische Begründung war, dass die Fotos sie daran erinnern sollten, dass der Ermordete einmal lebendig gewesen war. Sie erfüllten ihren Zweck.
Auf den ersten und ältesten Bildern sah man einen kleinen, gepflegten Jungen, meist mit seinem Bruder, der etwa zwei bis drei Jahre älter war, oder seiner Mutter. Dóra registrierte, wie schön Amelia Guntlieb war. Obwohl die Fotos zum Teil ziemlich unscharf waren, konnte man gut erkennen, dass sie zu den wenigen Frauen gehörte, die immer hervorragend aussehen, auch wenn sie nicht viel dafür tun. Dóra musterte ein Bild von Mutter und Sohn genauer, auf dem Frau Guntlieb dem Jungen das Laufen beibrachte. Das Foto war im Garten aufgenommen worden. Frau Guntlieb hielt Harald an den Händen fest, während er auf die ungeschickte Art eines einjährigen Kindes versuchte zu laufen, ein Bein angewinkelt und nach oben gestreckt. Frau Guntlieb lächelte in die Kamera und ihr schönes Gesicht strahlte vor Glück. Die kühle Stimme, die Dóra am Telefon von der anderen Seite des Ozeans gehört hatte, passte nicht zu diesem Motiv. Der Junge war in dem Alter, in dem das Gesicht mit dicken Bäckchen, Stupsnase und Babyspeck noch nicht richtig geformt ist. Dennoch ließ sich eine wirklich deutliche Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn ausmachen.
Die nächsten Fotos zeigten Harald im Alter von zwei oder drei Jahren. Jetzt ähnelte er seiner Mutter noch mehr, hatte aber keine mädchenhaften Züge. Seine Mutter war auch auf den Fotos, zuerst schwanger, dann lächelnd, mit einem in dicke Tücher gewickelten Baby im Arm. Auf diesem Bild stand Harald neben dem Stuhl seiner Mutter und reckte sich nach oben, um einen Blick auf den Säugling, seine kleine Schwester, werfen zu können. Seine Mutter hatte ihm den Arm um die Schultern gelegt. Auf dem Zettel unter dem Foto sah Dóra, dass die Kleine nach der Mutter benannt worden war: Amelia, mit dem Zweitnamen Maria. Das musste das Mädchen sein, das an einer angeborenen Krankheit gestorben war. Dem Bild nach zu urteilen, hatte die Familie nicht von Anfang an von der Krankheit gewusst. Die Mutter schien überglücklich und sorglos zu sein. Auf den nächsten Fotos hatte sich jedoch etwas verändert. Frau Guntlieb wirkte abwesend und traurig, ihre Augen waren ausdruckslos. Es gab auch keinen Körperkontakt zwischen ihr und Harald wie auf den früheren Fotos. Der
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