Das Letzte Ritual
auch.«
»Gut«, sagte Matthias unnötig laut. Vielleicht fürchtete er, Dóra könnte etwas Unpassendes sagen.
»Sollen wir uns setzen?«, fragte Elisa. »Darf ich Sie zu einem Kaffee oder einem Glas Wein einladen?« Dóra hatte beschlossen, in Zukunft auf Alkohol zu verzichten, und nahm eine Tasse Kaffee. Matthias und Elisa bestellten Weißwein.
»Also dann«, sagte Matthias und ließ sich in seinen Sessel sinken. »Was kannst du uns über den Besuch erzählen?«
»Sollen wir nicht auf den Wein warten? Ich glaube, den brauche ich jetzt«, entgegnete Elisa und schaute Matthias fragend an.
»Aber selbstverständlich«, antwortete er, beugte sich vor und drückte ihren Arm, der auf der Sofalehne ruhte.
Elisa schaute Dóra entschuldigend an. »Ich kann das nicht genau erklären, aber es fällt mir wirklich schwer, über diesen Besuch zu sprechen. Ich hab damals die ganze Zeit nur über mich geredet. Wenn ich gewusst hätte, dass ich Harald nie wieder sehen würde, hätte ich ihm gesagt, wie viel er mir bedeutet.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Aber ich hab’s nicht getan und jetzt ist es zu spät.«
Die Bedienung kam mit den Getränken und sie stießen an. Dóra nippte an ihrem Kaffee und beobachtete die beiden beim Leeren ihrer Weingläser. Sie würde bei der nächsten Gelegenheit wieder mit dem Trinken anfangen, wollte aber jetzt im Nachhinein keinen Wein mehr bestellen.
»Am besten erzähle ich Ihnen, warum ich Harald besucht habe«, erklärte Elisa, nachdem sie ihr Glas abgestellt hatte. Dóra und Matthias nickten. »Wie du weißt, Matthias, habe ich zurzeit große Probleme mit meinen Eltern. Sie möchten, dass ich Betriebswirtschaft studiere und dann in der Bank anfange. Harald war der Einzige, der mir immer gesagt hat, ich soll tun, wozu ich Lust habe – Cello spielen.«
»Ich verstehe«, sagte Dóra, obwohl sie eigentlich gar nichts verstand.
»Harald hat gesagt, ich soll mich nicht um Papa und Mama scheren und weiterspielen. Es gäbe an jeder Ecke irgendwelche Deppen mit Krawatte, die eine Bank leiten könnten, aber die wenigsten hätten die Begabung, ein Instrument so meisterhaft zu beherrschen.« Sie beeilte sich, hinzuzufügen: »Er hat ›Deppen mit Krawatte‹ gesagt, nicht ich.«
»Darf ich fragen, wofür Sie sich entschieden haben?«, fragte Dóra neugierig.
»Weiterzuspielen«, entgegnete Elisa mit verbitterter Stimme. »Und trotzdem habe ich mich für Betriebswirtschaft eingeschrieben und fange bald mit dem Studium an.«
»Dann ist dein Vater bestimmt glücklich«, bemerkte Matthias.
»Ja, vor allem erleichtert. In unserer Familie ist man selten wirklich glücklich. Und momentan schon gar nicht.«
»Elisa, wir haben E-Mails von Harald und eurem Vater gesehen. Die beiden haben sich anscheinend nicht besonders gut verstanden.« Dóra verstummte, fügte dann aber hinzu: »Außerdem haben wir triftige Gründe, anzunehmen, dass Haralds Verhältnis zu eurer Mutter alles andere als harmonisch war.«
Elisa trank ihr Glas leer, bevor sie antwortete. Sie schaute Dóra direkt in die Augen. »Harald war der beste Bruder, den man sich denken kann. Auch wenn er anders war als die meisten anderen Leute, besonders zum Schluss.« Sie streckte ihre Zungenspitze heraus und machte eine Handbewegung, um Haralds gespaltene Zunge anzudeuten. »Aber ich bin immer stolz auf ihn gewesen. Er war ein toller Mensch, und zwar nicht nur mir gegenüber. Er hat unsere Schwester auf Händen getragen; niemand konnte besser mit Behinderten umgehen als er.« Traurig betrachtete sie das auf dem Tisch stehende Weinglas. »Mama und Papa, sie … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … sie waren immer ungerecht zu ihm. Meine ersten Erinnerungen an meine Eltern sind voller Umarmungen, Liebe und Fürsorge, aber Harald kam darin nicht vor. Sie schienen ihn … ja, sie schienen ihn nicht ausstehen zu können.« Hastig berichtigte sie sich selbst. »Sie waren nie wirklich böse zu ihm oder so. Sie haben ihn einfach nicht geliebt. Ich weiß nicht, warum, falls es überhaupt einen Grund gibt.«
Dóra versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie unsympathisch ihr die Guntliebs waren. Sie musste den Mörder dieses armen Jungen finden. Auf einmal war Dóra auf das Treffen mit Haralds Mutter gespannt. »Ja«, sagte sie, um die Stille zu durchbrechen. »Sprechen wir am besten über Ihren Besuch bei Ihrem Bruder.«
Elisa lächelte erleichtert. »Wir haben nichts Besonderes unternommen, waren nur in der Blauen Lagune und haben
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