Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
erst einmal verheiratet wären, wäre er bestimmt nicht mehr so eifersüchtig; dann würde er wissen, dass er sie hatte. Und alles würde gut werden.
»Ich liebe dich«, sagte sie. »Das ist alles.«
»Ich liebe dich auch«, erwiderte Raffy, zog sie fest an sich, beugte sich über sie und küsste sie zärtlich. »Mehr als du dir vorstellen kannst.« Dann lächelte er und verließ das Zimmer.
2
E s war früh am Morgen. Gabby bemerkte, dass die Straße, die sie hinunterging – eine der größeren Straßen in der Stadt – fast menschenleer war, und sie ging etwas schneller. Sie war schon fünf Minuten zu spät dran, und das war nicht gut, aber es war auch nicht das Ende der Welt. Nicht mehr. Zehn Minuten Verspätung wären allerdings schon das Äußerste, sonst müsste sie einen Teil ihrer Mittagspause opfern.
Die Mittagspause war eine der Verbesserungsmaßnahmen, seit das System ausgeschaltet worden war. Oder »abgeschafft«, wie ihre Eltern es ausdrückten, mit Furcht in den Augen und mit Groll in der Stimme. Ihre Eltern mochten Lucas, den neuen Anführer der Stadt, nicht. Sie waren der Meinung, dass er wieder Zerstörung und Verderben in die Stadt brachte. Der Hauptgrund war jedoch, dass ihre Eltern das System jetzt nicht mehr als Druckmittel einsetzen konnten; zumindest schien sie das am meisten zu ärgern. Sie konnten ihr nicht mehr vorschreiben, wann sie abends zu Hause sein sollte, und sie konnten nicht mehr darauf bestehen, dass sie nach dem Abendessen bei ihnen am Tisch sitzen blieb und zuhörte, wie ihr Vater ihnen einen Vortrag hielt über die Bedeutung von innerer Einkehr oder über ein anderes langweiliges Thema. Jetzt konnte sie nach der Arbeit ausgehen und sich mit Freunden auf dem Rasenplatz treffen. Jetzt konnte sie selbst entscheiden, wen sie heiraten wollte; sie konnte alles selbst bestimmen.
Allerdings, rief sie sich in Erinnerung, während sie in einen leichten Laufschritt fiel, gab es immer noch gewisse Regeln, was das pünktliche Erscheinen am Arbeitsplatz betraf. Aber jedenfalls wollte sie noch keine großen Entscheidungen treffen. Sie konnte sich nicht vorstellen, verheiratet zu sein, ein Haus zu haben und immer so ernst zu sein wie ihre Eltern. Sie wollte einfach auf dem Rasen Ball spielen, die freudige Erregung spüren, wenn man hinter dem Ball herlief und ihn bekam, die Begeisterung über den Sieg und den Schmerz über die Niederlage. Bis es abgeschaltet wurde, entschied in der Stadt das System über Sieg und Niederlage, und zwar in Bezug auf die Ränge: eine Aufwertung war ein Sieg, eine Abwertung eine Niederlage. Aber das System war kein Spiel, es entschied alles: wo man arbeitete, wen man heiratete, mit wem man Umgang hatte. Egal, ob man gewann oder ob man verlor, die Dinge konnten sich trotzdem gegen einen wenden. Man hatte keine Kontrolle darüber.
Andererseits verschwand damals auch niemand. Gabby blieb einen Moment stehen, um zu verschnaufen, und blickte sich um. Wurde sie etwa beobachtet? Verfolgte sie jemand? Sie schüttelte sich. Natürlich nicht.
Was Clara, ihre beste Freundin, ihr erzählt hatte, war vermutlich sowieso erfunden. Es gab keine Spitzel in der Stadt. Es konnte nicht stimmen, was Clara über die Verschwundenen gesagt hatte. Es musste eine andere Erklärung geben. Aber Claras große Angst schien echt gewesen zu sein. Gabby hatte bemerkt, wie Claras Hände zitterten, als sie ihr die Geschichte erzählte, und sie hatte die Furcht in ihren Augen gesehen. Allerdings war Clara leicht in Angst zu versetzen, denn sie glaubte alles, was man ihr erzählte. Und Gabby wollte nicht glauben, dass sie, Gabby, verschwinden würde, nur weil Clara ihr von den Leuten in dem Krankenhaus erzählt hatte. Sonst wäre Clara selbst schon längst verschwunden.
In Wahrheit hatte Gabby genauso viel Angst wegen der Verschwundenen wie alle anderen, aber sie weigerte sich, die Angst zuzulassen. Denn unter dem System hatten die Menschen ständig Angst gehabt, sie waren nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus gegangen und hatten sich Sorgen um die Zukunft gemacht. Irgendetwas Schreckliches ging hier vor, da hatte sie keinen Zweifel, aber sie wollte es nicht an sich heranlassen. Sie wollte nicht, dass es wieder so wurde wie früher. Lieber wollte sie sterben.
Vielleicht nicht gerade sterben, berichtigte sie sich. Aber auf keinen Fall wollte sie wegen der Verschwundenen in Panik geraten, so wie alle anderen. Denn sie fing gerade an, ihr Leben als etwas Wertvolles zu begreifen,
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