Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
als etwas, wofür es sich lohnte, morgens aufzuwachen.
Bis zu dem großen Wandel hatte es in der Stadt keine öffentlichen Sportveranstaltungen gegeben. Es gab auch keine Tanz- oder Musikevents, ja nicht einmal richtige Gespräche. Die Menschen hatten zu große Angst und tuschelten nur heimlich miteinander. Und ständig saß ihnen die Furcht im Nacken, vertrauliche Bemerkungen könnten ans Licht kommen und das System könnte irgendetwas bemerkt haben. Mittlerweile sah man die Leute an den Straßenecken zusammenstehen und sich unterhalten, man lud sich gegenseitig zum Abendessen ein, alte Gitarren und Akkordeons wurden hervorgeholt, und nach getaner Arbeit erklang überall Musik.
Für Gabbys Eltern war das der Anfang vom Ende; für Gabby aber war es ein Wunder.
Sie beschleunigte den Schritt; in einer Minute würde sie bei der Töpferwerkstatt sein, in der sie arbeitete. Sie fragte sich, ob Clara wohl schon da war. Sie beide waren gestern Nacht spät ins Bett gekommen, deshalb hatte Gabby heute Morgen auch verschlafen, obwohl ihre Mutter versucht hatte, sie zu wecken.
Als Clara ihr mit zitternder Stimme von den geheimnisvollen Fremden in dem Krankenhaus erzählt hatte, hatte Gabby nur mit halbem Ohr zugehört, und sie hatte Clara nicht sehr überzeugend beruhigt. Denn als sie Clara gebeten hatte, ihr zu sagen, was sie wusste, hatte Gabby gehofft und erwartet, endlich zu erfahren, dass es mit den Verschwundenen etwas ganz anderes auf sich hatte, dass sie geflohen waren, um irgendwo etwas Aufregenderes, Besseres zu finden. Deshalb hatte sie Clara nicht richtig zugehört und sich eingeredet, dass Clara alles nur erfunden hatte und dass es nicht stimmen konnte, weil … Weil …
Erst als sie um die Ecke bog, bemerkte sie den Schatten unter ihren Füßen, und als die Werkstatt in Sicht kam, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, und sie ging noch etwas schneller. Die Spitzel. Clara hatte ihr erzählt, dass sie alles wussten, dass sie alle aufspürten, die etwas wussten, alle, die sie gesehen hatten. Alle außer Clara.
Das konnte nicht wahr sein. Und trotzdem lief Gabby ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die schnellen Schritte hinter sich hörte. Denn jetzt gab es keinen Zweifel mehr, dass sie verfolgt wurde. Clara hatte also die Wahrheit gesagt. Und plötzlich wurde ihr klar, dass sie um ihr Leben rannte.
3
Sie durfte nicht mehr so viel über alles nachdenken, dachte Evie auf dem Weg zur Arbeit. Sie hatte schon immer zu viel nachgedacht und an allem gezweifelt. Vielleicht sollte sie einfach lernen, die Gegebenheiten zu akzeptieren; vielleicht wäre sie dann richtig zufrieden.
Sie und Raffy waren hier zweifellos glücklich. Und sie wollte auch keinen anderen heiraten. Raffy zu heiraten war absolut vernünftig. Und sie wollte es auf keinen Fall vermasseln und alles aufs Spiel setzen. Trotz aller Herzlichkeit, Offenheit und Freundlichkeit, die sie in der Siedlung erlebten, mussten Raffy und Evie feststellen, dass es gar nicht so leicht war, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, und Evie wollte auf keinen Fall, dass alles wieder von vorn anfing. Raffy und Evie waren bereits ausführlich befragt worden; sie hatten sich mit verschiedenen Gruppen von Leuten getroffen, hatten eine Probezeit absolviert und waren vor die Ratsversammlung zitiert worden. Wie Benjamin gesagt hatte, gehörte die Siedlung den Menschen, die dort lebten; die allein konnten entscheiden, wer sich ihnen anschließen durfte. Und jeder, der zu der Gemeinschaft dazugehören wollte, musste sich als ihrer würdig erweisen und zeigen, dass er engagiert und anpassungsfähig war.
All das hatten sie getan. Raffy hatte Arbeit auf einem der vielen Bauernhöfe gefunden, welche die Gemeinschaft mit Nahrungsmitteln versorgten, und Evie hatte in der Küche angefangen und war dann in die Näherei gewechselt, wo man ihre Fähigkeiten zu schätzen wusste, auch wenn sie etwas aus der Übung war. Und Raffys Freude an der Arbeit hatte auf sie abgefärbt. Während sie in der Stadt das Nähen gehasst hatte und etwas ganz anderes machen wollte als die Frau, die sich als ihre Mutter ausgegeben hatte, war sie hier dankbar, dass es eine Arbeit für sie gab, die sie gut konnte; hier machte es ihr nichts aus, dass ihre Finger zerstochen waren und schmerzten, ja, sie war seltsamerweise beinahe stolz darauf. Stolz auf ihre Arbeit und darauf, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die so ganz anders war als die Stadt.
Benjamin hatte sie von Zeit zu Zeit beobachtet; dabei hob
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