Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
besuchte, ein Stück Brot, ein bisschen Obst oder etwas von ihrem eigenen Essen mit. Er wollte es zwar nie annehmen, aber Evie bestand darauf, weil sie nicht so viel brauchte wie er und weil sie außerdem unbedingt etwas lernen wollte, und deshalb war es eigentlich ein fairer Handel.
Raffy erzählte sie nichts davon, denn sie war sich nicht sicher, ob er sie verstehen würde.
In Wahrheit wusste Evie, dass Neil mehr Essen bekäme, wenn er nur darum bitten würde, denn die Nahrung wurde nur deshalb gleich verteilt, weil das wohl am vernünftigsten und am fairsten war. In der Siedlung gab es keine Reglementierung, es war ein Ort der Gemeinschaft, wie Benjamin, Stern und die anderen immer wieder betonten. Alles durfte diskutiert werden, und jeder hatte das Recht, anderer Meinung zu sein oder vorzuschlagen, wie man etwas anders machen könnte.
Aber niemand hatte je darum gebeten, dass irgendetwas geändert werden sollte.
»Ich habe das Buch dabei, das ich erwähnt habe.« Neil hielt es in die Höhe, und auf Evies Gesicht erschien ein Lächeln. Er warf ihr das Buch zu und sie sprang hoch und fing es auf.
»Danke«, sagte Evie und strahlte, als sie das Buch in den Händen drehte. Neil hatte ihr in seinem Kurs Kreatives Schreiben, der jeden Mittwochabend stattfand, von dem Buch erzählt. Benjamin hatte Evie den Kurs vorgeschlagen, weil er dachte, das Schreiben könnte vielleicht eine reinigende Wirkung haben. Anfangs hatte Raffy sie begleitet, weil er angeblich seine Gedanken auch so gern niederschreiben wollte wie sie, aber schließlich war er abgesprungen und einem anderen Klub beigetreten, weil ihm die Ausreden ausgegangen waren, warum sie allein in ihren Kurs gehen sollte.
Evie liebte die Sprache und wie sich durch ein einziges Wort ein ganzer Satz verändern ließ, wie Gefühle, Spannung oder Angst erzeugt wurden, wie all das Schreckliche, das sie erlebt hatte, durch das Niederschreiben nur noch zu Worten auf einer Seite wurde und wie das Schreiben ihr half, sich davon zu befreien.
»Ich bin sicher, es wird dir gefallen«, meinte Neil. »Die Autorin hat vor über hundert Jahren gelebt, aber ihre Bücher sind immer noch aktuell, weil sie über allgemeine Themen schreibt und weil in ihren Worten Wahrheit liegt. Du wirst sehen, was ich meine.«
Evie lächelte dankbar. In der Stadt hatte sie Lernen immer gehasst; die Zahlen und Fakten, die sie auswendig lernen und wortwörtlich wiedergeben musste; wo keine Fragen, keine Fantasie und nichts Neues erlaubt waren. Jeder, der anders war, war gefährlich, und man durfte ihm nicht trauen. Jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr Angst die Stadt beherrscht hatte; Angst, etwas falsch zu machen; Angst, mit jemandem zu sprechen, der einen womöglich mit dem Bösen ansteckte; Angst, im Rang herabgestuft zu werden; Angst, dass einem nahestehenden Menschen dasselbe widerfuhr; Angst vor den Bösen außerhalb der Stadtmauern; Angst davor, was passieren würde, wenn die Mauern niedergerissen wurden, wenn die Entschlossenheit schwand, wenn das Böse wieder die Herrschaft übernahm. Angst lähmte und schwächte. Angst machte die Menschen unsicher, nervös, unglücklich und verschlossen.
»Sehen wir uns am Mittwoch?«, fragte Neil, und Evie nickte und strahlte ihn an.
»Also, bis dann«, sagte sie, öffnete ihre Tasche und steckte das Buch hinein. Es hatte den Titel Alle Menschen sind sterblich. Als sie das Buch in die Tasche schob, streiften ihre Finger einen harten, metallenen Gegenstand, und sie errötete schuldbewusst. Sie beschleunigte den Schritt, so als hätte sie Angst, jemand könnte ihr folgen, könnte wissen, was das war.
Es war eine Uhr.
Lucas’ Uhr.
Die Uhr, die er ihr an dem Tag gegeben hatte, als sie und Raffy die Stadt für immer verlassen hatten.
Die Uhr, die Lucas’ und Raffys Vater gehört hatte. Lucas hatte sie gebeten, sie Raffy zu geben, und dann hatte er ihr gesagt, dass er sie liebe und dass er sie immer geliebt habe.
»Alles okay, Evie?« Neil ging mit besorgtem Gesicht auf sie zu. Evie spürte, dass sie heftig errötete.
»Alles in Ordnung«, erwiderte sie rasch, obwohl sie wusste, dass sie alles andere als überzeugend klang. »Wirklich, mir geht es gut.«
Es hatte einige Wochen gedauert, bis sie den Moment für gekommen hielt, Raffy die Uhr zu geben. Sie hatte gewartet, bis sie dachte, Raffy würde es verstehen, er würde seinem Bruder vergeben und Lucas so sehen, wie er wirklich war, und nicht als den unterdrückerischen älteren Bruder, als der er sich
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