Das letzte Zeichen (German Edition)
Freunde gehabt. Nie sah Evie ihn in Gesellschaft. Immer war er allein, beobachtete, brütete vor sich hin, während die anderen Jungen ihm mit Argwohn begegneten. Evie wunderte sich nicht. Etwas an ihm brachte einen unwillkürlich dazu, dass man vor ihm auf der Hut war. Mit seinen straffen, geschmeidigen Muskeln wirkte er immer sprungbereit, und manchmal fragte Evie sich, wofür er sich wappnete. Wie mochte es sich wohl anfühlen, wenn man mit ihm zusammen rannte, draußen im Freien, wenn einem der Wind durchs Haar fuhr?
Aber das würde sie nie erleben. Und überhaupt nahm es mit den Mädchen und Jungen in den Geschichten ihrer Mutter nie ein gutes Ende. Meistens endeten sie bettelarm und allein.
Evie und ihre Abteilung versammelten sich im Hof und stellten sich ordentlich in einer Reihe neben den anderen Abteilungen auf. Beklommen blickte sie sich um. Die Luft knisterte förmlich vor Aufregung und Erwartung. Oder war es Angst? Noch nie hatten die Regierungsgebäude geräumt werden müssen, außer während der sorgfältig geplanten Brandschutzübung, die einmal im Jahr stattfand. Jeder gab sich ruhig und umsichtig, doch die Augen huschten neugierig umher, Blicke wurden gewechselt, Augenbrauen wurden hochgezogen und kaum vernehmliches Geflüster sprang von Reihe zu Reihe. Eine Panne. Eine Panne im System. War eine Panne ein Fehler? Was bedeutete das? Was würde geschehen?
Evie fühlte die Spannung in der Luft und tauschte Blicke, genau wie alle anderen, doch bei ihr waren die Spannung, die Erwartung und die Erregung viel größer. Immer wenn sie Schritte hinter sich hörte, sträubten sich ihre Haare im Nacken. Und wenn klar war, dass es nicht Raffy sein konnte, weil die Schritte sich entfernten oder stehen blieben, dann traf die Enttäuschung sie wie ein kleiner Stich, für den sie sich sofort tadelte. Hatte er wirklich die Panne entdeckt? Machte ihn das zum Helden? Oder würde er wieder für etwas verantwortlich gemacht, das nicht seine Schuld war? Kam man einfach nur auf ihn, nun … weil er eben Raffy war? Aus demselben Grund, warum ihre Eltern ihr jeglichen Umgang mit ihm verboten, ja selbst ein »Hallo« bei der wöchentlichen Versammlung nicht duldeten. Der Grund, warum er keine Freunde hatte, warum der Lehrer ihn in der Vorschule immer besonders hart bestraft hatte.
Weil er so war »wie sein Vater«.
Ihre Aufseherin erschien und das Flüstern verstummte. »Es gibt kein Problem. Keine Panne. Glauben Sie nicht, was die Leute sagen«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme und sah jedem Einzelnen in die Augen. »Es ist nur ein routinemäßiger Neustart des Systems. Warten Sie einfach draußen, bis man Ihnen sagt, dass Sie wieder hineindürfen. Alles ist so, wie es sein soll. Alles ist bestens.« Evie nickte, genau wie Christine und die anderen. Sie wusste, dass alle dasselbe dachten: Das war keine routinemäßige Angelegenheit, denn sonst wäre es ja schon einmal vorgekommen.
Dann kam jemand mit dem Unterabteilungsleiter heraus auf den Hof, und daran, wie die Aufseherin scharf die Luft einzog, war unschwer zu erkennen, wer der andere sein musste – Raffy.
Hunderte Augenpaare folgten Raffy auf dem Weg zu seiner Abteilung. Der Unterabteilungsleiter ging hinter ihm. Evie spürte ein Kribbeln im Magen. Ihr Blick schoss bald hierhin, bald dorthin, und am liebsten hätte sie laut gerufen: »Hier bin ich, hier drüben!«, aber das durfte sie nicht, und wenn jemand sah, dass er in ihre Richtung blickte, dann war das gefährlich.
Christine starrte Evie an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Raphael!«, sagte ihr Blick. »Hab ich’s dir nicht gesagt?«
Der Unterabteilungsleiter rief die Aufseher zu sich. Die drängten sich in eine Ecke und sprachen leise, sodass auch die Übrigen wieder Gelegenheit hatten, miteinander zu flüstern.
»Dieser Irre!«, zischte Christine sofort. »Wetten, dass er die Panne ausgelöst hat? Er sollte nicht hier arbeiten dürfen. Ich kann ehrlich gesagt kaum glauben, dass ausgerechnet er ein B sein soll. Aber nicht mehr lange. Systempanne? Der führt doch was im Schilde!«
»Er ist kein Irrer«, erwiderte Evie, noch bevor sie es verhindern konnte. »Du weißt gar nichts.«
Christine starrte sie entgeistert an. Sie war es nicht gewöhnt, dass man ihr widersprach. Nicht in einer Sache, über die alle sich einig waren. »Evie«, flüsterte sie. »Nimm ihn nicht in Schutz, bloß weil du seinen Bruder heiratest. Das brauchst du nicht. Lucas weiß doch auch, dass Raphael ein Irrer
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