Das letzte Zeichen (German Edition)
stürzen.
»Wunderbar. Dann gib acht auf dich. Bis bald, Evie.« Er beugte sich vor, um sie zu küssen. Evie hatte ihn noch nie geküsst und sie erstarrte. Was sollte sie tun? War das erlaubt, hier bei der Arbeit? Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass Lucas nicht nur Abteilungsleiter war, sondern auch ihr Verlobter. Also war es erlaubt – wenn es von ihm ausging. Sie neigte sich ihm entgegen, wandte das Gesicht aber im letzten Moment ein kleines bisschen ab, sodass Lucas ihre Lippen nicht ganz traf und der Kuss etwas seitlich landete. Ein sparsamer Kuss. Ganz anders als Raffys Küsse. So schnell, wie er den Kopf zu ihr hinbewegt hatte, zog er ihn wieder zurück; noch ein kurzes Lächeln, und weg war er, unterwegs zum Unterabteilungsleiter.
Evie sah ihm einen Augenblick lang nach und fragte sich, was er wohl dachte. Dann fiel ihr ein, dass er überhaupt nicht dachte. Er konzentrierte sich auf die Arbeit, darauf, produktiv zu sein und ein guter Bürger. Genau wie der Bruder sagte: Ein wirklich guter Bürger dachte ziemlich wenig. Das Denken besorgten das System und der Große Anführer für ihn. Man brauchte nur zu tun, was von einem verlangt wurde, mit Anstand und mit Entschlossenheit für das Gute, ehrenhaft und treu ergeben.
Langsam drehte Evie sich um und ging zurück ins Bürogebäude. Sie wollte gerade durch die Tür, als sie hinter sich Schritte hörte – rasche, hastige Schritte. Sie blieb stehen, trat zur Seite und erstarrte. Es war Raffy und sein Aufseher rannte hinter ihm her. »Raphael, nicht rennen. Kommen Sie zurück. Kommen Sie …«
Als er an ihr vorbeirannte, stolperte Raffy und fiel auf sie; Evie keuchte, vor Schreck darüber dass sie ihn berührte, und vor Überraschung und Erregung über sein Gewicht auf ihr.
»Küss ihn nicht noch einmal«, zischte er leise, während er sich mit der Hand an der Wand abstützte und sich hochzog, sodass es aussah, als sei er unabsichtlich gestürzt. »Nie wieder.«
»Na los!«, brummte der Aufseher ungeduldig. »Tut mir leid«, meinte er zu Evie.
»Nein, ich … kein Problem«, entgegnete sie.
»Entschuldigung«, sagte Raffy laut zu ihr und zu dem Aufseher. »Ich bin ausgerutscht. Es tut mir wirklich leid.«
Der Aufseher seufzte müde und führte Raffy ins Gebäude. Während er sich abwandte, formte Raffy mit den Lippen »Bis heute Nacht«, dann war er fort. Evie blickte den beiden nach und ging dann rasch in ihre Abteilung zurück.
»Wenn das nicht Liebe ist – du siehst furchtbar aus«, spottete Christine leise herüber, als Evie sich kurz darauf wieder an ihren Platz setzte. »Kannst du es wirklich nicht aushalten, eine Minute ohne ihn zu sein?«
Evie lief feuerrot an, während der Computer hochfuhr. Sie wusste keine Antwort auf diese Frage. Christine sprach natürlich über Lucas, aber Evie sah nur Raffys Lippen und seinen wütenden, verletzten Blick. Und dazu Lucas’ Stimme, die ihr sagte, dass man Raffy im Auge behalten würde. Und da war ihr mit einem Mal klar, dass sie Schluss machen musste, dass es aus war zwischen ihr und Raffy. Weil er niemals auf einem Pferd in die Abteilung geritten kommen und sie an einen Ort entführen würde, von dem sie wusste, dass es ihn nicht gab. Sie würde Lucas heiraten, und zu hoffen, dass das nicht geschehen würde, machte die Sache für alle nur noch schlimmer.
4
D er Bruder schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Sein mächtiger Bauch wölbte sich vor, während er um seinen Schreibtisch herumging, vorbei an dem üppigen Sofa, auf dem er gern sein Nachmittagsschläfchen hielt, »um gründlich über spirituelle Dinge nachzudenken«, und weiter zum Fenster – einem großen Erker mit einem einmaligen Blick über den ganzen, wie ein Fächer ausgebreiteten Ostteil der Stadt. Seiner Stadt. Er betrachtete sie ebenso als sein Eigentum wie seine Roben oder sein Haus – das große Haus mit Schwimmbad, das eine hohe Mauer vor neugierigen Blicken verbarg. Er war von Anfang an da gewesen, schon als es mit der Stadt losging. Als einer der Ersten hatte er verstanden, dass der Große Anführer recht hatte und dass die Neutaufe den Weg eröffnete aus der schrecklichen Vergangenheit der Menschheit in eine großartige Zukunft. Erlösung. Hoffnung.
Das hatte er seinen Schäfchen gegeben. Sie lebten sicher und zufrieden. Harte Arbeit hielt sie beschäftigt. Und wenn er sich dafür mit dem Besten und Feinsten umgab, was die Stadt zu bieten hatte, wenn er sich hin und wieder etwas Luxus gönnte, dann war das nur recht
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