Das letzte Zeichen (German Edition)
Lucas längst darüber hinaus war, was angemessen war und was nicht. Er hatte sie durchschaut und sie konnte endlich sie selbst sein.
»So ist es«, meinte er und erwiderte ihren Blick, als wollte er sie herausfordern, ihn auszufragen; ihm vorzuwerfen, dass er log und dass er alles tat, um Raffy von ihr fernzuhalten.
Evie legte sich gerade den richtigen Satz zurecht, um genau das zu tun, als sie beide durch das Geräusch von Schritten aufgeschreckt wurden. Zu Evies Verwunderung glomm auch in Lucas’ Blick kurz ein Funke von Furcht auf. Beide drehten sich zur Tür und Evies Vater erschien. Er sah bestürzt aus, dass sie hier in seinem Arbeitszimmer waren, und ihm fehlten im ersten Moment die Worte. Das Arbeitszimmer war sein Reich, sein Reich ganz allein. Evie und ihre Mutter kamen nur herein, wenn er zu Hause war, und auch dann nur mit seiner Erlaubnis.
»Lucas wollte mich etwas fragen. Etwas sehr Persönliches. Etwas Wichtiges«, sagte Evie schnell und schämte sich sofort dafür, wie leicht ihr die Lüge über die Lippen gekommen war. »Ich wollte nicht, dass wir im Wohnzimmer gestört werden … von Mutter …«
Ihre Blicke trafen sich, und als er ihre bedeutungsvolle Miene sah, blitzte Verständnis in seinen Augen auf. »Natürlich«, unterbrach ihr Vater sie lächelnd und sah von ihr zu Lucas und wieder zurück. Er hatte die Schlussfolgerung gezogen, die Evie erhofft hatte. »Entschuldigt bitte. Ich bin in der Küche, wenn ihr mich braucht.«
Er lächelte ihr noch kurz zu, dann ging er. Lucas sah Evie fragend an, schloss eine Sekunde lang die Augen und öffnete sie wieder. »Ich danke dir, Evie. Es war richtig, durchblicken zu lassen, dass wir über persönliche Dinge gesprochen haben. Sonst hätte dein Vater vielleicht falsche Schlüsse gezogen.«
»Das hätte er vielleicht«, entgegnete Evie. »Aber falsche Schlüsse hat er trotzdem gezogen, oder? Er denkt, du setzt das Datum für unsere Hochzeit fest.«
»Das mag wohl sein, ja«, meinte Lucas vorsichtig.
Evie wollte ihn schütteln, ihn anschreien, um ihn zu irgendeiner Reaktion zu bewegen. Aber sie wusste, dass er zu so etwas nicht fähig war. Wie Raffy gesagt hatte – er war eine Maschine. Ein seltsamer, gefühlloser Maschinenmensch. Also würde sie sich auf das konzentrieren, was wichtig war: darauf, warum sie ihren Vater angelogen hatte.
»Sag mir die Wahrheit über Raffy«, verlangte sie. »Was hast du mit ihm gemacht? Er ist nicht krank. Ich weiß, dass er nicht krank ist. Sag es mir, oder ich erzähle meinem Vater, dass du hier herumgeschnüffelt hast. Spionierst du ihm nach? Dann verschwendest du deine Zeit. Er ist ein guter Mensch. Mein Vater ist Schlüsselhüter.«
Lucas ging auf sie zu, bis sie nur noch ein kleines Stück voneinander entfernt waren. Evie konnte keine Spur von Angst mehr in seinen Augen sehen; da war wieder nichts als Blau. »Ich weiß, dass dein Vater ein guter Mensch ist. Deshalb hat er auch so viele Medaillen. Und deswegen bin ich auch hier, wenn du dich erinnerst. Ich schnüffle nicht herum, ich bewundere nur seine Medaillen«, sagte er sanft. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er allzu beunruhigt ist. Ich habe vielleicht meine guten Manieren vergessen, vielleicht gegen eine Benimmregel verstoßen, aber ich glaube, dein Vater würde das verstehen. Ob er auch so viel Verständnis dafür hätte, dass du nächtliche Besuche von meinem Bruder bekommst, ist etwas ganz anderes.«
Sie trat einen Schritt zurück. Sie zitterte. Sie hatte sich so stark gefühlt, so schlau, und jetzt war das alles wie weggeblasen, schon beim ersten Windhauch. Sie sah zu Lucas auf und wusste, dass sie ihn mehr hasste, als sie je für möglich gehalten hätte, dass man jemanden hassen könnte, auch wenn er ein A war. Gerade weil er ein A war. As sollten doch gute Menschen sein – die besten Menschen –, aber Lucas … Sie atmete tief aus. Raffy hatte recht. Die Stadt war verdreht. Oder, was wahrscheinlicher war, sie selbst war verdreht. Jedenfalls war sie sich sicher, dass sie sich unter lauter Ds bedeutend wohler fühlen würde.
»Du musst meinem Vater irgendetwas sagen«, meinte sie und wandte sich ab. Sie hatte verloren, aber sie war entschlossen, es sich nicht anmerken zu lassen. »Er erwartet es.«
»Ich werde ihm erklären, dass diese Dinge Zeit brauchen«, stimmte er zu und ging zur Tür. »Danke, Evie. Wir müssen das wieder tun.«
Und mit diesen Worten verließ er das Arbeitszimmer. Sie hörte, dass er noch kurz mit ihren Eltern
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