Das letzte Zeichen (German Edition)
Seit sie selbst zehn Stunden am Tag arbeitete, hatte die Mutter nicht mehr gefragt. Sie schien keine Arbeit mehr mit nach Hause zu nehmen.
»Also gut«, sagte sie und legte ihre Tasche weg. Schließlich war das Einzige, was sie an diesem Abend geplant hatte, wütend auf Lucas zu sein und sich Sorgen um Raffy zu machen.
»Gut«, meinte Delphine. »Ich koche und du nähst. Genau wie früher.«
Evie wusch sich die Hände, setzte sich an den Tisch und machte sich wieder mit der Nähmaschine ihrer Mutter vertraut. Manches hatte sie längst vergessen, aber nach einigen Probenähten ging es schon besser. Beim ersten Mal drückte sie zu heftig auf das Pedal, sie war zu schnell, und ihre Naht wurde schief, aber bald kam sie wieder in den Rhythmus und begann, das sanfte, beruhigende Surren zu genießen, während sie sich nur darauf konzentrieren musste, eine gerade Linie beizubehalten.
»Dein Vater hat mir erzählt, Lucas hätte sich gestern Abend mit dir unterhalten«, sagte ihre Mutter nach ein paar Minuten Schweigen.
Evie antwortete nicht. Sie hatte es genossen, einmal ein paar Minuten nicht an Lucas zu denken.
»Du hast Glück, dass dir so ein guter Mann den Hof macht«, fuhr ihre Mutter unbekümmert fort. »Ich hoffe, du weißt das zu schätzen und gibst ihm das Gefühl, dass er die richtige Wahl getroffen hat … dass du gut genug für ihn bist.«
Evie hielt inne mit Nähen und blickte zu ihrer Mutter auf. »Du machst dir anscheinend keine Gedanken darüber, ob er auch gut genug für mich ist.«
Delphine verdrehte die Augen. »Evie, so etwas sagt man nicht einmal im Spaß. Mit Lucas hast du es jedenfalls sehr gut getroffen. Sehr gut.«
»Das sagst du mir andauernd«, erwiderte Evie und schob ihren Stuhl zurück. Mit einem Mal fühlte sie sich beengt; vor ein paar Sekunden noch war es so gemütlich in der Küche gewesen, und jetzt glaubte Evie, sie müsste ersticken.
»Ich sage das andauernd, weil ich mir nicht sicher bin, ob du es zu schätzen weißt«, antwortete die Mutter knapp. »Ich weiß nicht, ob du überhaupt irgendetwas zu schätzen weißt. Du hast Glück, dass du überhaupt hier bist, Evie. Wirklich Glück.« Sie schlug etwas mit dem Schneebesen in einer Rührschüssel und bewegte die Hand nun schneller. Evie fragte sich, was wohl wäre, wenn die Schüssel samt Inhalt quer durch die Küche fliegen würde. Aber dann wurde ihr bewusst, dass sie sich das nicht fragte, sondern dass sie hoffte, dass es passieren würde.
Weil sie böse war. Sie nahm das zur Kenntnis ohne irgendeine Gefühlsregung; es beunruhigte sie nicht einmal mehr. Es war einfach eine Tatsache. Eine Tatsache, die sie akzeptiert hatte.
»Ich finde, du solltest Lucas schätzen, weil er ein guter Mann ist. Weil er ein A ist«, sagte Delphine rundheraus.
Sie stellte die Schüssel auf die Anrichte, kam an den Tisch und setzte sich Evie gegenüber hin.
»Ich finde, du solltest es würdigen, dass dir eine gute Heirat bevorsteht. Mit einem guten Mann mit guten Aussichten. Nicht wie bei …«
Sie beendete den Satz nicht, aber Evie wusste, was ihre Mutter hatte sagen wollen.
»Nicht wie bei dir?« Sie stand auf, und sie spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. Sie hatte es satt, ihre Gefühle zu kontrollieren. Sie konnte es nicht mehr. »Vater liebt dich. Er ist ein guter Mann. Ein wirklich guter Mann. Sein Arbeitszimmer ist voller Medaillen und Pokale, er ist beliebt und geachtet. Und er ist Schlüsselhüter. Aber das reicht dir nicht. Ich wünschte, du würdest Lucas heiraten. Ich glaube, ihr habt einander verdient!« Sie ließ die Näharbeit halb fertig liegen und floh hinauf in ihr Zimmer, ohne auf die Rufe ihrer Mutter zu achten, und auch nicht auf die Drohungen und schließlich auf das Ultimatum, sie bekäme kein Abendessen, ja überhaupt nichts zu essen, bis sie sich entschuldigte.
Sie hatte sowieso keinen Hunger.
Und sie würde sich auf keinen Fall entschuldigen.
Es war schon spät, aber Evie konnte nicht schlafen. Stattdessen saß sie auf dem Bett und versuchte, ihren bohrenden Hunger nicht zu beachten, sich über so banale, unwichtige Dinge zu erheben, wo es doch so viele andere Dinge gab, die sie verstehen und über die sie sich Gedanken machen musste. Raffy, Lucas, ihre eigene Zukunft.
Und doch war da etwas anderes ganz vorn in ihrem Kopf, nagte an ihr und ließ ihr keine Ruhe. Etwas, das ihre Mutter gesagt hatte. Du hast Glück, dass du überhaupt hier bist.
Aber wo sollte sie denn sonst sein?
Evie sah aus dem Fenster. Es
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