Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Zeichen (German Edition)

Das letzte Zeichen (German Edition)

Titel: Das letzte Zeichen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma Malley
Vom Netzwerk:
sagen wir eher, das System weiß es. Ich hatte gehofft …« Er sah wieder auf Lucas und spürte, wie er fast zurückprallte angesichts des Fehlens irgendeiner Gefühlsregung im Gesicht des jungen Mannes. »Ein Bericht ist erstellt worden, der besagt, dass Raffy uns verlassen wird.«
    »Wird er zum K erklärt?«
    »So hat das System es entschieden«, antwortete der Bruder ernst und legte die Hände wie zum Gebet aneinander – eine Angewohnheit, die er nicht abstellen konnte.
    »Dann bekommt er heute Nacht eine zweite Neutaufe?«
    »Ja, sie holen ihn heute Nacht … zur Sicherheit aller«, sagte der Bruder und suchte in Lucas’ Gesicht nach einem Anzeichen von Trauer oder von Wut – etwas, das er nachempfinden konnte. Aber natürlich war da nichts.
    »Sehr gut. Wenn das System entschieden hat«, sagte Lucas. »Ist das alles?«
    »Das ist alles«, antwortete der Bruder und fragte sich, warum ihm das Fehlen jeglicher Reaktion bei Lucas einen solchen Stich versetzte.
    Lucas ging zur Tür, öffnete sie, doch dann zögerte er. »Bruder?« Der zögerliche Tonfall des jungen Mannes überraschte den Bruder ziemlich.
    »Ja, Lucas?«
    »Könnte ich noch einen Abend mit Raphael verbringen? Und auch meine Mutter?«
    Der Bruder starrte ihn an. Es ging ihm also doch nah. »Bittest du mich, die Umsetzung der Entscheidung des Systems hinauszuschieben?«, fragte er.
    Lucas nickte langsam. »Ich weiß, es ist allerhand, darum zu bitten«, sagte er, und seine Stimme klang etwas rau. »Aber es würde ihr sehr viel bedeuten. Meiner Mutter.« Der Bruder schaute ihn vorsichtig an. Es war tatsächlich allerhand, darum zu bitten. Und endlich konnte der Bruder ein paar Wolken am strahlend blauen Himmel entdecken und aus irgendeinem Grund heiterte ihn das auf. Lucas war doch ein Mensch. Er war doch echt.
    »Dann also morgen«, sagte er.
    »Danke.« Ein Lächeln. Vielleicht das erste Lächeln, das je Lucas’ Augen erreicht hatte. Dann war er fort.
    Langsam ging der Bruder zu seinem Schreibtisch hinüber, zog Raphaels Wechselakte hervor und legte sie in die Schublade.
    Evie wusste, dass Raffy nicht bei der Arbeit war. Zum einen, weil sie früh dort war und sich so lange draußen herumgetrieben hatte, bis sie sah, dass Lucas allein kam, zum anderen, weil sie es einfach wusste. Und sie wusste auch, dass er nicht krank war. Sie hatte gehört, wie die Leute sich zuflüsterten, dass er unter Bewachung stand, und dass sein Bruder den Auftrag hatte, herauszufinden, was er wusste. Den Rest füllte sie mit Einbildung, mit Angst und mit Abscheu gegenüber Lucas und mit der Wut auf ihn und der Enttäuschung über ihn, über jeden.
    Denn in Wirklichkeit war es ihre Schuld. Sie hätte früher Schluss machen müssen. Sie hätte stärker sein müssen. Und jetzt war Raffy … ja, was eigentlich? Irgendwo weggesperrt? Gefoltert von Lucas, weil er sie besucht hatte? Weil Lucas ihm gefolgt war? Weil Lucas sich nichts machte aus Gefühlen oder aus Familienbanden oder so etwas? Weil er grausam war und wütend und eifersüchtig?
    Auf dem Heimweg kam sie an Raffys Haus vorbei, und sie war versucht, an die Tür zu klopfen und nach ihm zu fragen, doch sie wusste, dass das sinnlos war. Sie konnte genauso wenig an diese Tür klopfen, wie sie entscheiden konnte, Lucas nicht zu heiraten, nicht zur Arbeit zu gehen oder die Gesetze der Stadt nicht zu befolgen. Sie musste tun, was man von ihr erwartete, weil das alle taten. Ohne Widerrede. Ob die anderen Leute, die hier lebten, diese Regeln genauso frustrierend fanden, ob sie sich danach sehnten, sie zu brechen und sich den Versuchungen der Begierde und der Wut hinzugeben? Waren die As einfach von Natur aus gut oder hatten sie sich einfach nur besser im Griff? Hatte auch Lucas manchmal Triebe, die er im Zaum halten musste? Evie lachte dumpf auf. Lucas hatte bestimmt niemals irgendwelche Triebe oder Gefühle gehabt, da war sie sich sicher.
    Als sie nach Hause kam, wartete ihre Mutter schon in der Küche auf sie, vor sich auf dem Tisch die Nähmaschine und daneben einen Stapel halb fertiger Kleider.
    »Evie«, rief sie und seufzte. »Da bist du ja endlich. Belle war heute nicht da wegen Grippe. Du musst mir helfen, damit wir ihren Teil fertigkriegen.«
    Evie starrte auf den Haufen. Früher, bevor sie in der Behörde angefangen hatte, war sie ihrer Mutter regelmäßig beim Nähen von Kleidung oder Bettzeug zur Hand gegangen – ein oder zwei Stunden jeden Tag nach der Schule, bevor sie zusammen das Abendessen gemacht hatten.

Weitere Kostenlose Bücher