Das letzte Zeichen (German Edition)
tat so weh, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie konnte sich nicht bewegen, denn sie war an Händen und Füßen gefesselt. Jetzt erinnerte sie sich wieder an die Falle und an die starken Hände, die sie festgehalten hatten. Raffy hatte sich gewehrt und hatte verloren und war mit dem Gesicht nach unten auf den Boden geworfen worden. Sie hatten ihren Rucksack geplündert, ihnen Fragen ins Gesicht gebrüllt und Informationen verlangt. Sie hatten stundenlang marschieren müssen, bis sie nicht mehr weiterkonnte; man hatte ihr Wasser angeboten; sie hatte es getrunken und war zusammengebrochen. Sonst wusste sie nichts mehr; sie hatte keine Ahnung, wie sie an diesen kalten dunklen Ort gekommen war. Sie roch den Atem des Mannes, süß und scharf zugleich, wie der Begrüßungstrunk bei der wöchentlichen Versammlung, wie ein Feuerwerk oder wie …
»Du bist also wach? Das ist gut«, sagte er. »Tut mir leid wegen der Schmerzen. Wir mussten den Chip entfernen. Nur eine Vorsichtsmaßnahme.«
Evie musterte ihn ängstlich. Sie hatte keine Ahnung, wovon er redete. Sie wusste nur, dass er unter den Männern gewesen war, die sie und Raffy abgeschnitten hatten. Er hatte kein einziges Haar auf dem Scheitel; die restlichen Haare an den Seiten waren silbergraue Stoppeln. Sein faltiges Gesicht war schmutzig und von der Sonne gebräunt. Er trug eine Weste, kein Hemd. In der Hand hielt er eine Waffe, die sie bedrohlich anblitzte.
Er war nicht zivilisiert, erkannte sie mit einem Schlag. Er war ein Böser. Er war ein Böser und er würde sie beide ermorden.
Sie wusste es ganz tief in ihrem Bauch. Und sie wusste auch, das hieß, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach in ein paar Stunden tot sein würde.
Der Mann betrachtete sie noch ein paar Sekunden lang, dann lachte er auf und steckte die Pistole in seine Gesäßtasche. »Keine Sorge, ich werde dich nicht töten. Sonst hätte ich es schon längst getan. Aber ich will wissen, wer ihr seid und was ihr auf dem Gelände der Stadt verloren habt.«
»Auf dem Gelände der Stadt?«, fragte Evie unsicher. »Wir waren doch gar nicht …«
»Oh doch, das wart ihr.« Er lächelte. »Ihr glaubt wohl, das Land vor der Stadt gehört keinem. Sie haben Patrouillen dort. Wollen nicht, dass einer zu nah rankommt. Aber ihr wart ganz nah.«
Evie blickte angestrengt um sich und suchte nach Raffy, aber er war nirgends zu sehen. War er entkommen? Folterten sie ihn? War er vielleicht schon tot? Sie heftete ihren Blick auf den Mann, suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass seine Amygdala jeden seiner Schritte steuerte und sein ganzes Denken verdarb.
»Du schaust nach deinem Freund? Hier, hinter mir.«
Er trat einen Schritt zur Seite und Evie sah auf der anderen Seite des Raumes so etwas wie ein Häufchen Kleider auf dem Boden. Es bewegte sich nicht. Evies Kinnlade klappte herunter.
»Keine Sorge«, sagte der Mann. »Er lebt.«
Evie sagte nichts. Der Mann schien ihre Gedanken zu lesen und ihr war überhaupt nicht wohl dabei.
»Also«, fuhr der Mann im Plauderton fort, so als wäre das alles ganz normal; als wäre sie nicht gefangen genommen, an diesen seltsamen Ort verschleppt und gefesselt worden wie ein wildes Tier. »Wer seid ihr und warum seid ihr hier?«
Evie funkelte ihn wütend an. Die Stricke gruben sich tief in ihre Gelenke an Händen und Füßen. Sie wollte, dass ihre Fesseln sich lösten, wollte, dass dieser böse Mensch sie allein ließ, sodass sie Raffy wecken und sich mit ihm einen Fluchtplan ausdenken konnte. Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr; der Haufen Kleider sprang in die Höhe, Raffy warf sich auf den Mann und riss ihn nach hinten. Evie wollte ihm helfen und bäumte sich auf, aber die Stricke schnitten ihr ins Fleisch, und sie fiel wieder hin.
Der Mann schrie laut auf, und ein anderer Mann stürzte herein, ein hässlicher, plumper Geselle mit muskulösen Armen. Er riss Raffy zurück, schlug ihm mit der Faust in den Magen und schleuderte ihn wieder auf den Boden.
»So ist das also«, zischte der erste Mann durch die Zähne und spie etwas Blut auf den Boden. Er stand auf und blickte angewidert auf Raffy.
»Du solltest ihn lieber zur Vernunft bringen«, sagte er zu Evie. Die beiden Männer gingen hinaus und schlossen die Tür.
Sofort robbte Evie zu Raffy hinüber. Er lag auf dem Rücken mit blutüberströmtem Gesicht. Gefesselt, wie sie war, konnte sie ihn nicht berühren, seine Wunden nicht säubern. Sie blickte auf ihn hinunter, und ihre Augen
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