Das letzte Zeichen (German Edition)
stimmen«, sagte er und sah weg. Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche. »Schau«, sagte er und packte den Rucksack. »Wir können uns über diesen anderen Ort nicht den Kopf zerbrechen. Jedenfalls nicht jetzt. Wir müssen so weit von der Stadt wegkommen, wie es geht. Sie werden nach uns suchen. Und wir müssen die Bösen meiden. Und etwas zu essen finden, Wasser und einen Unterschlupf. Ich denke, damit haben wir genug zu tun, meinst du nicht auch?«
Er blickte sie kaum an, als wäre sie das Letzte, was er sehen wollte.
»Aber …« Evie verzog unwillkürlich das Gesicht. Sie wusste, dass er recht hatte. Doch sie wollte es nicht hören. Sie wollte ein Ziel haben, nicht einfach weglaufen. Sie wollte Antworten; sie wollte Wut ablassen gegen die Stadt und sie wollte den anderen Ort finden. Den Ort, von dem sie gekommen war.
»Aber was?« Raffy seufzte ungeduldig.
»Aber wir suchen doch nach dieser anderen Stadt, wenn wir in Sicherheit sind, oder? Lucas hat gesagt, wir sollten uns nordwärts halten, bestimmt weil …«
»Lucas sagt einen Haufen Zeug«, unterbrach Raffy sie verärgert. »Aber Lucas ist nicht hier. Ich gehe da lang. Kommst du mit?«
Er marschierte auf den Höhlenausgang zu, und für ein paar Augenblicke sah Evie ihm nach, wie er ging. Sie war allein. Sie war allein mitten in einem trostlosen Niemandsland. Sie war müde, sie war hungrig, und Raffy war wütend auf sie, weil sie ihm das Leben gerettet hatte.
»Weißt du, dass K für Killable steht?«, rief sie plötzlich. »Weißt du, dass sie dich von den Bösen töten lassen wollten? Wenn ich dir nicht zur Flucht verholfen hätte. Wenn Lucas dir nicht geholfen hätte.«
Raffy blieb stehen und drehte sich um. »Killable?«
»Genau. Killable.« Sie rannte zu ihm. »Ks werden nicht neu konditioniert«, sagte sie atemlos. »Man setzt sie vor der Stadtmauer aus, damit die Bösen sie töten. Die Bösen fressen sie auf. Wie Wilde.«
»Und das hat dir mein Bruder erzählt?«, fragte Raffy, immer noch mit Trotz in der Stimme, doch jetzt spiegelte sich so etwas wie Furcht in seinem Gesicht.
»Er hat gesagt, er hätte dich eingesperrt, damit niemand mit dir sprechen konnte. Er hat versucht, sie davon zu überzeugen, dass du an Wahnvorstellungen leiden würdest und dir das mit dem Kommunikationsprogramm nur eingebildet hättest. Er hat gesagt, er wollte dich beschützen.«
»So wie er meinen Vater beschützt hat?«, fragte Raffy. »Evie, er hat die Polizeigarde gerufen. Er hat sie auf unseren eigenen Vater gehetzt. Unser Vater war ein K. Du meinst also, er ist vor der Stadt ausgesetzt worden? Und Lucas wusste es?« Er biss sich auf die Lippe, wandte sich ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase.
Evie sah zu Boden. Hatte Lucas so etwas wirklich getan? Und hatte Raffy doch recht mit Lucas? Nein. Sie konnte das nicht glauben. »Vielleicht hat er es ja getan, Raffy. Ich weiß es nicht. Aber er hat uns zur Flucht verholfen. Er hat verhindert, dass die Bösen dich töten. Und er … er hat …«
»Er hat was?«, fragte Raffy höhnisch.
»Er hat mir gesagt, dass meine Eltern nicht meine Eltern sind.« Sie fing an zu schluchzen. »Er hat gesagt, ich wäre in die Stadt gebracht worden. Und dass sie meine richtigen Eltern umgebracht hätten.«
»Was?« Raffy erstarrte.
»Er hat gesagt, sie hätten Leute hereingelassen, die Kinder hatten, und ihnen die Kinder dann weggenommen und … und …«
Raffy schüttelte den Kopf, seine Augen flackerten, als würde er Informationen verarbeiten. Dann fasste er Evie an den Schultern. »Dein Traum! Dein Traum!«
Evie nickte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Tränen der Trauer, der Erschöpfung, der Angst und des Verrats. »Sie haben mir immer gesagt, ich muss gegen meine Träume ankämpfen. Und dann haben sie gesagt, ich würde von der Stadt träumen! Der Bruder wusste es – er wusste es die ganze Zeit. Und Lucas hat es mir erzählt. Warum hätte er mir die Wahrheit sagen sollen, wenn er mir nicht irgendwie helfen wollte? Vielleicht sind meine Eltern ja aus dieser anderen Stadt gekommen. Verstehst du denn nicht, dass wir dort hinmüssen?«
Raffy starrte sie einen Moment lang an, dann zog er sie an sich und nahm sie in die Arme.
Als er sie losließ, blickte sie zu ihm auf und sah, dass in seinen Augen ein Feuer loderte; die Hoffnungslosigkeit, die sich dort eingenistet hatte, war endlich vertrieben. »Wir werden diesen anderen Ort finden«, sagte er feierlich. »Wir werden ihn finden. Das verspreche ich
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