Das letzte Zeichen (German Edition)
sah sie nachdenklich an. »Okay. Setz dich. Ich erzähle dir jetzt alles über den Traum des Großen Anführers, ja?«
Evie nickte und nahm wieder neben Raffy Platz, der sich nur widerstrebend vom Computerbildschirm losreißen konnte.
Linus atmete tief durch. »Wieder zurück zu der Geschichte. Da waren wir also, Dr. Fisher und ich. Wir haben einen Haufen Kaffee getrunken und fantasiert, dass die Welt viel besser sein könnte, wenn man nur uns die Sache in die Hand geben würde. Und dann ist die Schreckenszeit losgegangen. Wisst ihr, warum man es die Schreckenszeit nennt?«
»Weil es ein Krieg war, und Krieg ist voller Schrecken«, sagte Evie.
Linus verzog das Gesicht. »Kriege hatte es auch schon vorher gegeben. Jede Menge Kriege, jede Menge Tod, Grausamkeit und Zerstörung. Das hat nie irgendetwas aufgehalten. Die Schreckenszeit wurde so genannt, weil die Soldaten alle Kinder waren und weil man mit den Bomben nur auf die Zivilbevölkerung gezielt hat. Es gab keine Gefechte, keine Strategie, nur gnadenloses Abschlachten, ohne dass ein Ende in Sicht war. Die Menschen, die ihn angefangen hatten, haben nicht für ein bestimmtes Ziel gekämpft; es ging ihnen nur darum, alles und alle zu zerstören, und das ist ihnen auch beinahe gelungen. So einen Feind kann man nicht bekämpfen und man kann sich auch nicht vor ihm verstecken.«
»Aber Sie haben sich versteckt«, sagte Raffy, und seine Augen verengten sich. »Sonst wären Sie jetzt nicht hier, oder?«
Linus lachte. »Kluger Junge. Ja, ich habe mich versteckt, genau wie Dr. Fisher. Wir waren ja schon jahrelang im Untergrund gewesen; für uns war das nichts Neues. Als wir allmählich begriffen haben, was da vor sich ging, erkannten wir unsere Chance. Denn die einzige Möglichkeit, den Schrecken zu verstehen, dafür zu sorgen, dass er einen Sinn bekam, lag darin, eine neue Welt des Friedens und der Hoffnung aufzubauen. Eine Welt, wo die Menschen nicht mehr böse waren, wo man sich um ihre Bedürfnisse kümmerte und wo sie sich entspannen und einfach nur leben konnten, statt jede Minute Angst zu haben. Das war alles, was wir wollten. Das war alles, was wir umzusetzen versucht haben …«
Seine Stimme versagte und er räusperte sich. »Also haben wir die Stadt aufgebaut.«
»Sie?«, meinte Raffy ungläubig.
»Ich und Dr. Fisher«, bestätigte Linus.
»Aber warum wird Ihr Name nie erwähnt?« Raffy sah ihn zweifelnd an. »Warum kommen Sie in den Betrachtungen nicht vor?«
»Die Betrachtungen?« Linus lachte. »Glaubst du diesen Mist etwa?«
Evie war schockiert. Sie wurde von Furcht erfasst. Sie versuchte, sie wegzudrängen, doch sie schaffte es nicht. Nicht gänzlich.
Linus bemerkte ihre Reaktion. »Keine Sorge, euer System kann mich nicht hören. Es kann gar nichts mehr hören. Nicht mehr.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Raffy unsicher.
Linus seufzte. »Kann ich meine Geschichte zu Ende erzählen?«
Raffy zuckte mit den Schultern. »Nur zu. Erzählen Sie.«
»Danke«, sagte Linus mit gespielter Ehrerbietung. »Wir hatten also einige Anhänger. Die Schreckenszeit war vorbei und alle kämpften um Essen, Wasser, das Nötigste eben. Die Welt zerfiel in Chaos und in lauter Stammeskriege. Also haben Dr. Fisher und ich unsere Vision verkündet und die Menschen haben es uns abgekauft. Sie wollten einen anderen Weg, einen Neuanfang. Wir haben das besiedelt, was vor der Schreckenszeit London war, haben die Gebäude, die noch standen, und die verbliebenen Ressourcen übernommen. Da war ein Fluss. Damit hatten wir die Basis, auf der wir aufbauen konnten. Und wir hatten Männer, die uns helfen konnten. Sie haben die Mauer gebaut und Häuser, stoisch und unermüdlich, weil sie an uns geglaubt haben und an den Traum, den wir ihnen versprochen hatten. Ich habe angefangen, das System aufzubauen. Und Fisher …«
Er schluckte und sein Blick sprang unbehaglich hin und her.
»Und Fisher?«, half Raffy nach.
Linus starrte wieder zu Boden. »Dr. Fisher hat angefangen zu operieren.«
»Die Amygdala entfernen. Die Neutaufe«, sagte Evie. »Das wird bei jedem in der Stadt gemacht.«
»Das machen sie wirklich?«, fragte Linus mit sarkastischem Unterton.
»Ja«, sagte Raffy stirnrunzelnd. »Das wissen Sie doch.«
Linus schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass alle, die er operiert hat, danach willenlos dahinvegetiert haben. Aber er wollte das nicht zugeben. Er hat darauf beharrt, dass die Methode funktionieren würde, dass sie vorher schon funktioniert hätte, und als ich
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