Das letzte Zeichen (German Edition)
einen kleinen, fensterlosen Raum.
»Das war mal eine Vorratskammer«, sagte Linus vergnügt. »Und du bist also Lucas?«
Evie folgte ihm hinein und sah Lucas am Boden liegen, gefesselt und geknebelt. Sein Gesicht war schwarz von Staub, aber als er sie sah, leuchteten seine Augen auf, ganz anders als die Augen, die sie so lange gekannt hatte. Und sie erwiderte seinen Blick und starrte in dieses Gesicht, das sie in ihrem Schlafzimmer vor so vielen Tagen zum ersten Mal gesehen hatte, ein Gesicht, das Schmerz, Verzweiflung, Hoffnung erlebt hatte und alles, was dazwischenlag, und sie spürte, dass sich etwas veränderte in ihr, etwas, das sie aufwühlte und erschreckte. Noch bevor sie es recht einordnen konnte, erschien Raffy neben ihr, und unwillkürlich blickte sie weg und errötete.
»Dann wollen wir dich mal losbinden, oder?«, sagte Linus und bückte sich. Martha trat zu ihm, nur Raffy und Evie hielten sich im Hintergrund. Kurz darauf war Lucas frei. Er dehnte sich, rieb sich die wunden Handgelenke und Fußknöchel und umarmte dann Linus.
»Du bist gekommen«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich wusste, dass du kommen würdest.«
»Natürlich sind wir gekommen«, sagte Linus grinsend. »Aber jetzt haben wir einiges zu tun. Und du auch. Glaubst du, du schaffst das?«
Lucas nickte. »Alles ist bereit.«
»Dann wasch dir das Gesicht, trink etwas und dann nichts wie los.«
Linus verließ die stickige Kammer und ging durch den Schlafsaal. Lucas humpelte hinter ihm her. Immer wieder drehte er sich nach seinem Bruder um, aber Raffy sah nur auf seine Füße. Evie fing ein, zwei Mal Lucas’ Blick auf, doch sie zwang sich, gleich wieder wegzusehen, aber sobald er sich abgewandt hatte, folgte sie ihm wieder mit dem Blick, beobachtete ihn, seinen Rücken, die Art, wie er sich bewegte …
»Das Bad ist da vorn«, sagte Linus und deutete einen Korridor hinunter. Lucas nickte dankbar und hinkte dorthin. Nach etwa einer Minute kam er zurück. Sein Gesicht war nun sauber und seine Haare hatten wieder ihre gewohnte glänzende Farbe.
»Okay«, sagte er jetzt wieder in geschäftsmäßigem Ton und mit entschlossenem Blick. »Ihr verlasse euch jetzt und wir sehen uns dann in …« Er schob den Ärmel hoch und blickte auf seine goldene Uhr. Evie sah, wie Raffys Augen sich verengten. »… in fünfundvierzig Minuten. Gut?«
»Gut«, erwiderte Linus. Lucas schlich aus dem Gebäude; wenige Augenblicke später folgten Linus, Martha, Raffy und Evie, bogen nach rechts ab und dann noch einmal nach rechts zum benachbarten Regierungsgebäude. Linus drückte die Tür auf; sie war nicht verschlossen. »Rein da … Schnell.« Er hielt ihnen die Tür auf und schloss hinter ihnen ab.
»Gut so weit. Raffy und ich sind dann im sechsten Stock. Evie, du weißt, wo du hinmusst?«
Sie nickte.
»Kommt zu uns, wenn ihr fertig seid.«
Evie nahm Martha mit hinauf zu ihrem Arbeitsplatz im vierten Stock, wo sie jahrelang Berichte geändert, das Leben von Menschen verändert, die drakonischen Rangwechsel des Systems vollzogen hatte, und sie erschauerte. Schließlich straffte sie sich und schaltete ihren Computer und den von Christine an. Dann zeigte sie Martha, welche Eingaben für einen Rangwechsel nötig waren. Sie hatte keine Unterlagen, die sie hätten anleiten können, keinen »Kodex von Gründen«, aber sie kannte ohnehin alle auswendig.
»Dann machen wir also alle zu As?«
Evie nickte. Wenn es klappte, was Linus und Raffy vorhatten, dann gab es überhaupt keine Ränge mehr. Doch sicherheitshalber machten sie erst einmal alle gleich. Vielleicht versuchte der Bruder ja, das alte System wieder zum Laufen zu bringen. Aber das war nicht möglich, wenn alle früheren Aufzeichnungen und die ehemaligen Rangstufen vernichtet waren, es sei denn, er würde sagen, dass das System einen Fehler gemacht hatte, dass das System korrumpiert worden war. Aber wenn es korrumpiert worden war, dann würde niemand mehr ihm glauben. Dann würde niemand mehr irgendetwas glauben.
»Bis auf den Bruder«, sagte Martha spöttisch. »Den machen wir zum D, einverstanden?«
Evie lächelte – zum ersten Mal seit dem Abmarsch der Gruppe von Base Camp. »D klingt gut«, sagte sie.
Martha lächelte zurück und sie machten sich ans Werk.
Entsetzt starrte der Bruder aus dem Fenster. Er atmete stoßweise und sein Herz hämmerte in der Brust. Er hatte die Berichte erhalten, und nun konnte er mit eigenen Augen sehen, wie die Bösen unten in den Straßen tobten. Ihr abscheuliches
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