Das letzte Zeichen (German Edition)
innerhalb der Stadtmauer. Die Polizeigarde musste inzwischen alarmiert sein; allzu lange konnte das Durcheinander nicht mehr andauern. Sie sollten jetzt eigentlich drin sein, auf dem Weg zum Regierungsgebäude. Lucas sollte das Tor öffnen.
Langsam kroch die Angst in Evie hoch. Zitternd, steif und kalt stand sie da und wartete. Sie wagte kaum zu atmen, und sie wagte erst recht nicht, das Undenkbare zu denken, dass etwas passiert war, dass alles, was Linus versprochen hatte, auf dem Spiel stand. Sie schloss die Augen, fasste in ihre Tasche und spürte, wie der kalte Stahl gegen ihr Bein drückte. Gestohlen, verborgen, ihr kleines Geheimnis.
Sie mussten das Tor öffnen. Sie mussten. Plötzlich und ohne Vorwarnung rannte sie darauf los und trommelte mit den Fäusten gegen das massive Metall. »Lass uns rein, Lucas, lass uns rein«, schrie sie. »Du musst uns jetzt reinlassen, sonst ist es zu spät. Du musst uns reinlassen …« Sie schluchzte, Tränen liefen ihr über das Gesicht, und Raffy rannte zu ihr hin, wollte sie wegziehen, aber sie wehrte sich. Sie packte seine Hände und schlug sie gegen das Tor, bis auch er dagegentrommelte, dagegentrat und laut nach Lucas rief. Obwohl sie wussten, dass er nicht da war, nicht da sein konnte – und obwohl Linus sie mit einem schmerzlichen Ausdruck in den Augen ansah, weil auch er wusste, weil auch er wissen musste …
Dann hörten sie ganz unvermittelt ein feines Quietschen. Evie und Raffy fielen nach vorn, als der Torflügel sich langsam nach innen öffnete. Vor ihnen tauchte ein Gesicht auf, ein Gesicht, das Evie kannte, das sie aber nie und nimmer erwartet hätte.
»Mr Bridges«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Was tun Sie …?«
»Lucas schickt mich.« Er klang besorgt. »Es tut mir leid, ich bin spät dran. Es herrscht ziemliche Aufregung. Die Polizeigarde …« Er blickte ängstlich und mit weit aufgerissenen Augen um sich. »Ich habe eine Nachricht für jemanden namens Linus.«
»Das bin ich«, sagte Linus, trat vor und ergriff Mr Bridges’ Hand. »Sie müssen Ralph sein.«
»Ralph. Ja, Sir. Ralph Bridges zu Ihren Diensten.«
»Überbringen Sie mir die Nachricht und sehen Sie zu, dass Sie heimkommen«, sagte Linus gütig. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.«
Mr Bridges nickte ängstlich. »Er hat gesagt, die Ränge … Lucas hat gesagt, Sie würden die Ränge abschaffen. Er hat gesagt …«
»Wir wollen mehr als nur die Ränge abschaffen«, sagte Linus grimmig. »Niemand soll mehr in Angst leben. Niemand, Sie verstehen?«
Mr Bridges nickte, doch er sah nicht überzeugt aus. »Es ist wegen meiner Familie«, sagte er. »Es ist mir egal, wenn sie mich holen, aber meine Frau und meine Kinder … Das sind gute Menschen. Ich will nicht noch mehr Schande über sie bringen. Ich will …«
»Sie tun das Richtige, Ralph«, sagte Linus ernst. »Sie sichern die Zukunft Ihrer Familie. Vergessen Sie das nicht.«
Ralph blickte zu Boden. Dann flüsterte er Linus die Nachricht ins Ohr, warf ihm noch einen Blick zu, in dem sich Hoffnung und Verzweiflung mischten, dann war er weg, ein dunkler Umriss, der durch die Straßen heimwärts huschte und in der dunklen Nacht verschwand. Evie blickte ihm mit offenem Mund nach.
»Wo ist Lucas?«, fragte sie Linus. »Wussten Sie, dass er nicht kommen würde?«
»Genau. Wo ist Lucas?«, fragte Raffy bitter. »Evie kann es gar nicht mehr erwarten, ihn zu sehen.«
Evie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, doch sie zwang sich, still zu sein.
»Lucas ist gefesselt«, erklärte Linus und spähte in die Dunkelheit, wo Mr Bridges verschwunden war. »Er hat Ralph geschickt, damit der uns hineinlässt. Und Ralph hat mir eben alles gesagt, was ich wissen muss darüber, wie es jetzt weitergeht. Aber Zeit zu reden haben wir später. Jetzt haben wir zu tun.«
22
S ie huschten durch die Dunkelheit. So hatte Evie die Stadt noch nie gesehen. An jeder Ecke standen Polizeiwachen, die Versammlungsglocke läutete und von überall her strömten ängstlich aneinandergedrängte Familien mit weit aufgerissenen Augen zum Versammlungshaus. Ringsum herrschte Panik. Die Leute rannten durcheinander, verfolgt von Polizeigardisten. Evie und ihre Gruppe bogen um eine Ecke. Und da waren sie: die Versehrten. Sie kamen auf sie zu, knurrend wie wilde Tiere und mit gefletschten Zähnen. Entsetzte Stadtbewohner stoben in alle Richtungen auseinander. Gardisten mit Schlagstöcken rückten an, um sie niederzuknüppeln. Evie stürmte
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