Himmelsnah - eShort zu Himmelsfern
I
Die armen, armen Bücher!
Staub kitzelte in Anna-Lenas Nase. Er fiel aus den abgewetzten Vorhängen, schwebte in der Luft und klebte überall: auf dem fettigen Boden, auf den Büchern, auf der schmierigen Holztheke und auf jedem Stück Papier. Anna hatte schon viele Büchereien gesehen, eine derart verwahrloste jedoch noch nie. Es roch kein bisschen nach Papier; eher nach alten Kartoffeln. In einem Regal, an das jemand ein Din-A4-Blatt mit der handgeschriebenen und inzwischen verblichenen Aufschrift »Ganz neu!« geklebt hatte, lag ein einzelner Roman: Harry Potter und der Gefangene von Askaban . Anna erinnerte sich an den Tag vor fünf Jahren, an dem sie das Buch gekauft hatte. Zusammen mit anderen Jugendlichen hatte sie bis Mitternacht vor der Buchhandlung auf den Moment des heiß ersehnten Verkaufsstarts gewartet.
Hinter dem Büchereitresen saß eine Frau mittleren Alters. Als Anna zur Tür hereingekommen war, hatte sie nur für einen kurzen Blick von ihrem Kreuzworträtsel aufgesehen und den Eindruck erweckt, als hätte sie an ihrer potentiellen Kundin nicht das geringste Interesse.
»Entschuldigen Sie«, flüsterte Anna, obwohl offensichtlich niemand da war, den sie mit lauten Worten hätte stören können. Die wenigen verkratzten Tische sahen aus, als wären sie mal Schulbänke gewesen, und waren leer. »Sind Sie Frau Pasch? Wir haben telefoniert, mein Name ist …«, nur nicht beim Lügen zögern, »… Nathalie … Töpfer.«
Frau Pasch sah nicht einmal von ihrem Heft auf. Ihre Haare waren grau mit einem gelben Nikotinstich. »Ach ja. Erinnere mich. Was wolltest du denn?«
Anna unterdrückte ein Stöhnen. Sie hatte der Bibliothekarin gestern am Telefon lang und ausführlich geschildert, was sie suchte, und die Vorstellung, alles noch einmal wiederholen zu müssen, behagte ihr nicht. Das Thema war zu heikel, um unbefangen darüber zu sprechen. Corbins Warnung schwebte wie eine dunkle Drohung über ihr. Anna ärgerte sich sogleich über diese Gedanken, die nicht ihre eigenen waren. Mit seiner übertriebenen Sorge hatte sie ihr Freund schon ganz nervös gemacht.
»Wir haben über ein Buch gesprochen, das Sie hier haben.« Ein seltenes Buch. Einmalig, vermutlich. Corbin hatte gedacht, es würde kein Exemplar mehr existieren, doch Anna hatte nicht nachgegeben und schließlich eines gefunden – zumindest war es offiziell im Bestand dieser winzigen, veralteten Dorfbücherei erfasst, sechzig Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt.
»Jaja. Sicher. Schau mal dahinten.« Die Frau wies in eine nicht näher bestimmte Richtung. »Da müsstest du es irgendwo finden.«
Einerseits war Anna erleichtert darüber, nicht das Interesse der Bibliothekarin zu wecken. Andererseits gefiel ihr die Aussicht, unnötig lange hierbleiben und nach dem Buch suchen zu müssen, überhaupt nicht. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass die Bücher – wenn überhaupt – nur nach einem äußerst undurchschaubaren System geordnet waren. Leise seufzend ging sie in die hinterste Ecke des Raumes und begann, die Buchrücken durchzusehen, Regal für Regal, von links nach rechts und von oben nach unten.
Hinter den milchigen Fenstern wanderte die Sonne dem Horizont entgegen. Der Nachmittag verlief in einen frühen Abend. Pünktlich zu jeder vollen Stunde schlurfte Frau Pasch zu den Toiletten, ging danach in den Vorraum der Bücherei, wo sie eine Zigarette rauchte, bis sie schließlich zu ihrem Rätselheft zurückschlappte. Anna rieb sich die müden Augen. Es waren nur noch wenige Regale übrig, doch ihre Hoffnung, das Buch noch zu finden, war aufgebraucht wie die Frischluft im Raum. Ein letztes Regal noch, dann würde sie nach Hause fahren und akzeptieren, dass Corbin recht gehabt hatte. Man hatte die Bücher vernichtet. Alle. Dieses eine, das sie hier zu finden geglaubt hatte, existierte nur noch auf dem Papier, da die alte Frau Pasch schon lange keinen Überblick mehr über ihre Bestände hatte. Warum auch – es kam ja doch niemand her, um die Bücher anzusehen, geschweige denn auszuleihen.
Im letzten Regal fand Anna eine Taschenbuchausgabe von Jules Verne. Sie zog das Buch hinaus, wobei ein zweites, sehr dünnes, zu Boden fiel. Sie ließ es einen Moment lang unbeachtet liegen und betrachtete den Jules-Vernes-Roman. Die schwimmende Stadt . Sie konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal davon gehört zu haben, dabei kannte Anna viele seiner Werke. Ihr Vater nannte sich Jules Vernes’ größten Fan, und als Anna ein kleines
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