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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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hier! Hier! Es hatte nicht geklappt, die Bombe war nicht explodiert, weil die Fernbedienung nicht funktioniert hatte.
    Omar says, Dilawar should have pressed number 4, sagte Pason. Dilawar says, he pressed number 4, but nothing happened. He says, Omar told him the wrong number. Omar says, no, it’s number 4.
    Dilawar riss Omar die Fernbedienung aus der Hand und drückte auf eine Taste, da, siehst du, es funktioniert nicht! Schau her, ich drücke die 4, und es funktioniert nicht, die 5 funktioniert nicht, die 6 auch nicht, glaubst du es jetzt endlich! Er drückte die 7.
    Ein dumpfer Knall.
    Dann Stille.
    Omar und Dilawar blickten in die Richtung der Explosion.
    Sie hatten keine Ahnung, wen oder was sie gerade in die Luft gesprengt hatten, vielleicht einen Bus mit Kindern, der zufällig gerade vorbeigefahren war, vielleicht einen Lastwagen mit Schuhen aus Pakistan, vielleicht gar nichts.
    A-B-C-D
    Drei Wochen später kamen sie in ein kleines Dorf am Fluss. Die Türen der Häuser standen offen, die Hühner hatten die Bewohner in der Eile zurückgelassen. Und einen Toyota-Pick-up, die Stimmung der Männer stieg, als sie den Wagen sahen. Yousef setzte sich auf den Fahrersitz, brach die Verschalung unter dem Steuerrad heraus und griff in die Drähte. Alle hofften, dass er es schaffte, und als der Motor ansprang, klopfte sogar Martens Yousef auf die Schulter. Am Tag zuvor hatten sie Ehsanullah auf einen der Esel setzen müssen, seine Beine waren ihm beim Gehen eingebrochen. Einen Tag lang hatte Ehsanullah seine letzte Kraft dazu aufgewendet, sich am Hals des Esels festzuhalten. Jetzt legten Mirwais und ein anderer Ehsanullah auf die Ladefläche des Pick-ups. Aus den Häusern holten sie zwei Decken, darin packten sie Ehsanullah für die Nacht warm ein.
    Yousef und Khyber rannten den Hühnern nach, und wenig später roch die Luft nach ihnen.
    Vor dem Essen beteten sie. Martens versuchte sich an eine Gedichtzeile von Rilke zu erinnern. Vor drei Monaten noch, bevor er mit Miriam nach Afghanistan abgereist war, hatte er Rilkezeilen auswendig hersagen können. Das war das Schöne gewesen, diese Zeilen zu besitzen und sie als Stimmungsgehilfen oder aus Freude an ihrer Schönheit jederzeit hervorholen zu können. Aber jetzt fielen ihm nur noch Bruckstücke ein.
So musst du bedenken: wem …
Welche Gebärde der Einsamen …
Tiefen, dir zugekehrt …
    So musst du bedenken: wem stammte aus Menschen bei Nacht, er hatte das ganze Gedicht auswendig gekonnt – Die Nächte sind nicht für die Menschen gemacht, so begann es, oder hieß es nicht für die Menge ?
    Sie beteten, und er versuchte, das Gedicht zu rekonstruieren, das war sein Gebet, seine Bitte um Wiedererlangung der Vollständigkeit. Aber das Denken strengte ihn an. Denken war eine kräftezehrende Tätigkeit, ein Luxus, den sich nur Menschen leisten konnten, die in Betten schliefen und gefüllte Kühlschränke besaßen. Um nachzudenken, musste man ausgeschlafen sein und wohlgenährt. Er aber schlief seit Wochen auf dem Boden, morgens erwachte er mit klappernden Zähnen und zerbissener Zunge aus flachem Schlaf, um wieder einen Tag lang über Steine zu wandern, verlassene Flüsse, Geröllfelder, die Gebirgssonne auf dem Kopf tragend, und kein Gespräch, inmitten von Menschen kein einziges Gespräch. Warum unter solchen Umständen noch denken, warum nicht selbst zum Stein werden, zum verlassenen Fluss? Die Landschaft hatte ihn mit ihrer Stille und Schlichtheit infiziert, und den Betenden ging es nicht anders. Abends, wenn sie erschöpft am Feuer hockten, waren ihre Augen leer, es ging nichts vor in diesen Leuten. Im Gebet murmelten sie Formeln, mit Inbrunst, aber es blieben Formeln, es war, als würde jemand aus tiefster Seele das Alphabet aufsagen. Und doch hätte Martens gern eingestimmt in dieses A-B-C-D, denn zu empfinden war weniger anstrengend als zu denken. Die Monotonie der Landschaft und die permanente Erschöpfung förderten sogar die Intensität der Empfindung. A-B-C-D, dies einfach nur zu empfinden war der richtige Weg, darüber nachzudenken war Schwachsinn. Noch zwei, drei Wochen, dachte Martens, und dann bin ich so weit, dann bete ich mit. Ein letzter Rest Kant, Kafka und Dylan verhinderten es noch, in einem inneren Köfferchen trug er diese Kostbarkeiten mit sich, der Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Kant hatte in seinem Studierzimmer mit dem Gänsekiel aufs Papier gekratzt, drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen:

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