Das Licht der Flüsse
fünf Minuten meine Segelleine festgemacht hatte.
Zugegeben, ich selbst war ein wenig verblüfft über diesen Erfolg. Natürlich hatte ich als Teil einer Mannschaft schon oft
die Schot eines Segelboots befestigt, aber in solch einem kleinen und wackligen Ding wie einem Kanu und bei diesen stürmischen
Böen war ich nicht darauf vorbereitet, dass ich demselben Prinzip folgen konnte, und dies inspirierte mich zu einigen geringschätzigen
Gedanken über unsere Achtung vor dem Leben. Es ist sicher einfacher zu rauchen, wenn die Schot festgemacht ist; doch ich habe
noch nie eine gemütliche Pfeife Tabak gegen ein offenkundiges Risiko abgewogen und mich dann ernsthaft für die gemütliche
Pfeife entschieden. Es ist sprichwörtlich bekannt, dass wir uns selbst nicht kennen, bis wir auf die Probe gestellt werden.
Die Erkenntnis, dass wir oft tapferer und besser sind, als wir dachten, ist allerdings weniger verbreitet, obwohl um einiges
tröstlicher. Ich glaube, jeder macht diese Erfahrung: Doch die Befürchtung, diesem Anspruch in Zukunft nicht gerecht werden
zu können, hindert die Menschheit daran, diese fröhliche Botschaft hinauszuposaunen. Ich wünschte ehrlich, denn mir wäre viel
Kummer erspart geblieben, jemand hätte mir in meiner Jugend Lebensmut eingetrichtert, mir gesagt, dass Gefahren, aus der Ferne
besehen, am unheilvollsten erscheinen, dass das Gute in der Seele eines Menschen keine Unterdrückung duldet und ihn in der
Stunde der Not selten oder niemals im Stich lässt. Doch in der Literatur sind wir alle gern bereit, die sentimentale Flöte
zu spielen, und niemand von uns will an der Spitze des Zuges marschieren, um die wilden Trommeln zu schlagen.
Auf dem Fluss war es angenehm. Ein oder zwei Lastkähne, beladen mit Heu, fuhren an uns vorbei. Schilf und Weiden säumten die
Ufer, und Rinder und graue, ehrwürdige Pferde kamen und senkten ihre sanften Häupter über den Damm. Hier und da zeigte sich
ein freundliches Dorf samt lärmender Werft zwischen den Bäumen, hier und da auf einer Wiese eine Villa. Der Wind leistete
uns auf der Schelde und dann auf der Rupel gute Dienste, und wir segelten recht sorglos dahin, als wir die ersten Ziegelfabriken
von Boom erblickten, die sich weit über das rechte Flussufer erstreckten. Das linke Ufer war noch grün und ländlich, Baumreihen
zogen sich den Weg entlang, und gelegentlich gab es ein paar Stufen, die einer Fähre als Ankerplatz dienten, wo zuweilen eine
Frau, die Ellbogen auf den Knien, dasaß oder ein alter Herr mit Stock und Silberrandbrille. Doch Boom und seine Ziegelfabriken
wurden von Minute zu Minute verrauchter und schäbiger, bis eine Kirche mit Turmuhr und eine Holzbrücke über dem Fluss die
Stadtmitte anzeigten.
Boom ist kein freundlicher Ort und hat nur eine bemerkenswerte Eigenschaft: Die Mehrheit seiner Bewohner ist persönlich der
Meinung, Englisch sprechen zu können, was durch die tatsächlichen Verhältnisse nicht bestätigt wird. Unsere Gespräche waren
folglich von einer gewissen Unklarheit. Was das Hôtel de la Navigation angeht, so glaube ich, dass es die traurigste Attraktion
der Stadt ist. Es brüstet sich mit einem sandbestreuten Salon, die Bar mit Blick auf die Straße; einem zweiten sandbestreuten
Salon, der noch dunkler und kälter ist, mit einem leeren Vogelkäfig und einem Spendenkästchen in den Farben der Trikolore
als einziger Zierde, wo wir abwechselnd in Gesellschaft dreier wortkargerIngenieursgehilfen und eines schweigsamen Handelsreisenden zu Abend aßen. Das Essen war, wie in Belgien üblich, von unbestimmbarer
Natur. Tatsächlich habe ich bei diesem freundlichen Volk noch nichts entdecken können, was einer Mahlzeit nahe käme. Sie scheinen
den ganzen Tag über amateurhaft mit Lebensmitteln herumzuspielen und darin herumzustochern: versuchsweise französisch, echt
deutsch und irgendwie keines von beiden.
Der leere Vogelkäfig, ausgefegt und geschmückt und ohne die Spur des alten zwitschernden Günstlings, abgesehen von den beiden
auseinandergebogenen Gitterstäben, zwischen denen sein Zuckerstückchen befestigt gewesen war, verbreitete eine Art heitere
Friedhofsstimmung. Die Ingenieursgehilfen hatten uns nichts zu sagen, dem Handelsreisenden erst recht nicht, sondern unterhielten
sich leise und einsilbig miteinander oder begafften uns durch schimmernde Brillengläser im Licht der Gaslampen. Denn obwohl
sie gutaussehende Burschen waren, trugen sie alle (wie
Weitere Kostenlose Bücher