Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)
dir?«
»Es ist ein Irrlicht«, sagte Sarik. »Es gehört zu mir.«
Cenaldi stand starr wie ein witterndes Tier, und einen unheimlichen Moment lang glaubte Sarik, tatsächlich ein Schnüffeln unter der Kapuze wahrzunehmen.
»Was willst du?«, fragte er dann.
»Ich erbitte deine und deiner Herrin Hilfe«, sagte Sarik. »Mein Geist lag im Schlaf, und ein Teil von ihm tut es noch. Ich hoffe, dass die Herrin der Dämmerung mich wecken und heilen kann.«
»Du begehrst Einlass in das Labyrinth unseres Wahns, um deinem eigenen zu entkommen?«, fragte Cenaldi, und obwohl die Worte wie Hohn oder Abweisung klangen, erkannte Sarik sie als die formelle Einladung unter Mächtigen; oder das, was Cenaldidafür hielt. Das Gebot der Gastfreundschaft war ein zerbrechliches, aber wertvolles Gut.
»So ist es«, erwiderte er deshalb.
Cenaldi zeigte erst keine Reaktion, dann wandte er sich ab. »Dann folge mir«, sagte er. »Ich werde dich mitnehmen – auf dem gleichen Weg wie alle, die zu mir kommen.«
Sarik folgte ihm aus der Höhle und sah, dass sie sich am Rande eines weiten, dunklen Sees befanden, an dessen Ufern alte Weiden ihre Äste hängen ließen. Vor ihnen lag ein Steg, an dem ein Ruderboot festgemacht hatte.
In der Mitte des Sees erhob sich eine überwucherte Insel, und der Himmel über ihr war dunkel und von violetten Streifen überzogen, als ob eine Sonne, die nur in Cenaldis Phantasie existierte, gerade auf- oder unterging. Es mochte aber auch sein, dass es nur Farbenspiele an der Decke einer zweiten, größeren Höhle waren. Woher das schwache Licht wirklich kam, war nicht zu bestimmen.
Abermals bedrängten ihn Zweifel, ob es klug gewesen war, hierher zu kommen. Außer den seltenen Gelegenheiten, zu denen Cenaldi und seine Herrin dem Ruf an Nerians Hof gefolgt waren, hatte er nie etwas mit ihnen zu schaffen gehabt. Er wusste weder, was ihn hier erwartete, noch welche Spuren die letzten achthundert Jahre an diesem Ort hinterlassen hatten.
»Finden denn noch viele Seelen den Weg zu dir?«, fragte Sarik. »Mein Reich hat sich weit von der Welt der Sterblichen entfernt, wie du bemerkt hast.« Cenaldi lief über den Steg, kletterte ins Boot und bedeutete Sarik, es ihm gleichzutun.
Er stieg in das schwankende Boot und nahm Platz. Cenaldi nahm die Riemen auf und ruderte sie mit langen Zügen auf den See hinaus. Sie saßen sich jetzt direkt gegenüber, doch immer noch hatte er nichts vom Gesicht seines Gastgebers gesehen.
»Es ist schlecht bestellt um die Welt«, sagte Sarik.
»So muss es wohl sein, denn du bist erwacht«, erwiderte Cenaldi, und seine tiefe Stimme und das Platschen der Riemen hallten über das dunkle Wasser.
»Dann weißt du also von dem Bann, der auf mir lag?«
»Wurde er nicht für dieselbe Dauer wie Borchiaks verhängt? Ist der Große ebenfalls erwacht?«
Sarik dachte an die Visionen, die er im Blauen Wald gehabt hatte, und erschauderte. »Sein Schlaf dauert an, und seine Wiederkehr würde Krieg bedeuten. Die Gefahr, die uns droht, ist jedoch eine noch größere.«
»Krieg«, wiederholte Cenaldi, »Gefahr«, und es klang, als spräche ein alter Mann die Namen seiner Kindheitsfreunde.
»Korianthe sagt, der zweimal Geborene kehrt zurück.«
»Der zweimal Geborene ist auch zweimal gestorben«, sinnierte Cenaldi. »Mag sein, dass seine dritte Wiederkehr das Ende bedeutet. Zuvor aber wird er zu uns kommen – und das ist er noch nicht.«
»Ist er es, mit dem du gerechnet hast? Glaubst du wirklich, deine Falle würde ihn aufhalten?«
»Ich tue alles für meine Herrin«, erwiderte Cenaldi ungerührt. »Sie ist mein Leben.«
Sarik blickte zu der kleinen Insel, die langsam näher kam. Es war schwer zu sagen im Zwielicht, doch sie schien ihm sehr trostlos und von Dornen überwachsen. Eine Gruppe grauer Schwäne zog lautlos am Ufer entlang.
»Was ist aus euch geworden?«, fragte er. »Sollte Ycilles Reich nicht ein Hort des Lebens sein? Wieso ist alles dunkel, wieso höre ich keine Vögel singen?«
Cenaldi lachte leise.
»Wieso alles dunkel ist, möchtest du wissen?« Und mit diesen Worten strich er sich die Kapuze zurück, und Sarik sah sein entstelltes Gesicht.
Cenaldis Züge kündeten noch von seiner Abstammung; sie waren immer schon spitz und etwas knöchern gewesen, seine Haut bleich wie Gebein. Wo aber seine Augen gewesen waren, klafften nur noch zwei dunkle Höhlen. »Es ist wahr«, fuhr er fort. »Meine Herrin liebte das Leben – und ich brachte ihr Seelen, damitsie in ihrem Garten
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