Wintergeister
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TOULOUSE
April 1933
La Rue des Pénitents Gris
E r ging wie jemand, der erst kürzlich wieder auf die Beine gekommen ist. Jeder Schritt bedächtig, überlegt. Jeder Schritt ein bewusster Genuss.
Er war groß und glatt rasiert, vielleicht ein wenig zu dünn. Seine Kleidung war maßgeschneidert. Ein leichter Wollanzug mit Fischgrätmuster, das Jackett an den Schultern breit und in der Taille schmal geschnitten. Die hellbraunen Handschuhe passten zum Filzhut. Er sah aus wie ein Engländer, der selbstbewusst das Recht beansprucht, an einem so angenehmen Frühlingsnachmittag auf einer solchen Straße zu flanieren.
Aber nichts ist so, wie es scheint.
Denn jeder Schritt war ein wenig zu bedächtig, ein wenig zu überlegt, als wage der Mann es nicht einmal, den Boden unter seinen Füßen als selbstverständlich hinzunehmen. Und beim Gehen huschten seine gescheiten, flinken Augen hin und her, als habe er den festen Vorsatz, auch das kleinste Detail in sich aufzunehmen.
Toulouse galt als eine der schönsten Städte Südfrankreichs. Freddie bewunderte die Stadt, zweifellos. Die eleganten Bauten aus dem neunzehnten Jahrhundert, die mittelalterliche Vergangenheit, die unter dem Pflaster und den Kolonnaden schlief, die Glockentürme und Kreuzgänge von Saint-Étienne, der Fluss, der die Stadt kühn durchschnitt. Die rosa Ziegelsteinfassaden, die in der Aprilsonne erröteten, waren der Grund, warum Toulouse auch liebevoll
la ville rose
genannt wurde. Wenig hatte sich verändert, seit Freddie das letzte Mal hier gewesen war, Ende der zwanziger Jahre. Damals war er ein anderer Mensch gewesen, ein beschädigter Mensch, halb verrückt vor Trauer.
Das war jetzt anders.
In der rechten Hand hielt Freddie eine Wegbeschreibung, die auf die Rückseite einer Serviette aus dem Café Bibent gekritzelt war, wo er zu Mittag ein Filet Mignon und einen mittelmäßigen Bordeaux zu sich genommen hatte. In der linken Brusttasche steckte, gezeichnet von Alter und Staub, ein Brief sicher in einem Kuvert. Dieser Brief – und die Tatsache, dass sich ihm endlich die Gelegenheit geboten hatte zurückzukehren – hatte ihn heute wieder nach Toulouse geführt. Die Berge, in denen er das Schriftstück gefunden hatte, waren für ihn von großer Bedeutung, und obwohl er den Brief nie gelesen hatte, war er für ihn ein kostbarer Besitz.
Freddie überquerte die Place du Capitole in Richtung Kathedrale Saint-Sernin. Er ging durch das Netz aus kleinen Straßen, verwinkelten Gässchen mit Jazzkneipen, Literatenkellern und dämmrigen Restaurants. Er wich auf den Bürgersteigen Passanten aus, Liebespärchen und Familien und Freunden, die den warmen Nachmittag im Freien genossen. Er kam an kleinen Plätzen und versteckten
ruelles
vorbei, ging die Rue du Taur hinunter, bis er die Straße entdeckte, nach der er suchte. An der Ecke verharrte er, als kämen ihm Bedenken. Dann setzte er sich wieder in Bewegung, ging nun mit forschen Schritten, zog seinen Schatten hinter sich her.
Auf halber Höhe der Rue des Pénitents Gris war eine
librairie
mit Antiquariat. Sein Ziel. Er blieb jäh stehen, um den Namen des Inhabers zu lesen, der in schwarzen Lettern über der Tür stand. Für einen Augenblick wurde seine Silhouette auf die Hauswand gestanzt. Dann veränderte er die Position, und sanftes Sonnenlicht durchflutete wieder das Fenster, ließ das Metallgitter schimmern.
Freddie starrte einen Moment in die Auslage, sah die alten Bände mit Blattgoldaufdruck und die auf Hochglanz polierten Lederschuber in Schwarz und Rot, die wulstigen Rücken von Werken Montaignes und Anatole France’ und Maupassants. Auch andere, weniger vertraute Namen: Antonin Gadal und Félix Garrigou; und Bände mit Gespenstergeschichten von Blackwood und James und Sheridan Le Fanu.
»Jetzt oder nie«, sagte er.
Die altmodische Klinke war schwergängig, und die Tür leistete Widerstand, als Freddie sie aufstieß. Eine Messingglocke schepperte irgendwo weit hinten im Laden. Die groben Binsenmatten auf dem Boden seufzten unter seinen Schuhsohlen, als er eintrat.
»Il y a quelqu’un?«
, sagte er in abgehacktem Französisch. »Jemand da?«
Der Kontrast zwischen der Helligkeit draußen und der Schattenwelt im Laden ließ Freddie blinzeln. Aber es roch angenehm nach Staub und Nachmittagen, Leim und Papier und polierten Holzregalen. Staubkörnchen tanzten durch schräge Sonnenstrahlen. Er wusste jetzt, dass er hier richtig war, und spürte, wie sich etwas in ihm löste. Vor
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