Das Licht Von Atlantis
sie Deoris kurz in die Arme.
Deoris verstand sie sehr gut, und trotzdem wandte sie den Blick missmutig von ihrer Schwester ab. Ihr war, als sei in ihrer Welt das Unterste zuoberst gekehrt worden. Sie wollte gar nicht wissen, was Domaris bevorstand, und hier, vor dem ältesten und heiligsten Schrein der Priesterkaste, fürchtete auch sie sich; es war ihr, als könne dies Wasser sie wie jede andere Frau in den Strom des Lebens spülen... Verstimmt sagte sie: »Es ist grausam! Das ganze Leben ist grausam! Ich wünschte, ich wäre nicht als Frau geboren worden.«
Sie schalt sich selbst, dass dies selbstsüchtig und falsch war, zwang sie doch ihre Schwester, ihr Aufmerksamkeit zuzuwenden und Trost zu spenden, wo es doch sie, Domaris, war, deren Prüfung unmittelbar bevorstand, während ihre eigene noch in weiter Zukunft lag. Trotzdem fragte sie: »Warum, Domaris? Warum?«
Domaris wusste darauf keine andere Antwort als die, Deoris noch einmal fest in die Arme zu schließen - und da kehrte ihre ganze Zuversicht zurück. Sie war eine Frau, die von großer Liebe erfüllt war, und in ihrem Herzen herrschte Freude. »Du wirst nicht immer so empfinden, Deoris«, versprach sie, ließ das Kind los und fügte langsam hinzu: »Jetzt werde ich in den Schrein gehen. Willst du den Rest des Weges mit mir kommen, kleine Schwester?«
Im ersten Augenblick fühlte Deoris ein großes Widerstreben. Sie hatte den Schrein jenseits des Teiches schon einmal betreten. Das war anlässlich des geheiligten Rituals gewesen, dem sich jedes Mädchen im Tempel unterziehen musste, wenn es beim Einsetzen der Pubertät zum erstenmal Dienst im Haus der Großen Mutter tat. Damals hatte sie lediglich die ungeheure Feierlichkeit des Rituals ein wenig nervös gemacht. Doch jetzt, als Domaris sich erhob, packte die Furcht Deoris und umschloss ihre Kehle wie mit eisigen Krallen. Wenn sie jetzt aus eigenem freien Willen mit Domaris ging, so würde sie in eine Falle laufen und sich blindlings der Grausamkeit der Natur ausliefern! Ihre Weigerung klang zitterig vor Angst und Trotz: »Nein, ich will nicht!«
»Nicht einmal, wenn ich dich darum bitte?« Domaris war verletzt. Sie hatte gehofft, Deoris würde verstehen, dass dieser Augenblick einen Wendepunkt in ihrem Leben bedeutete, und ihn mit ihr teilen.
Wieder schüttelte Deoris den Kopf und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Der böse Wunsch, die Schwester zu kränken, überkam sie: Domaris hatte sie allein gelassen - jetzt war sie an der Reihe!
Domaris wunderte sich über sich selbst, dass sie es über sich brachte, noch einmal zu bitten: »Deoris - kleine Schwester - bitte, ich möchte dich bei mir haben. Willst du nicht doch mitkommen?«
Deoris nahm die Hände vom Gesicht. Als sie endlich Worte fand, waren sie kaum verständlich. Aber sie blieb bei ihrer Meinung.
Domaris ließ die Hand von der Schulter ihrer Schwester sinken. »Es tut mir leid, Deoris. Ich hatte kein Recht, dich darum zu bitten.«
Jetzt hätte Deoris alles darum gegeben, ihre Worte wieder zurücknehmen zu können, doch dazu war es zu spät. Domaris ging ein paar Schritte zur Seite, und Deoris blieb still liegen, drückte ihre fiebernden Wangen ins kalte Gras und weinte lautlos vor sich hin.
Ohne zurückzublicken, öffnete Domaris ihre Oberkleider und ließ sie niederfallen. Sie löste ihr Haar, bis es ihren Körper bedeckte. Mit beiden Händen fuhr sie durch die schweren Locken, und plötzlich durchlief ihren jungen Körper von den Fingerspitzen zu den Zehen ein Beben: Micon liebt mich! Zum erstenmal - und in gewisser Weise zum einzigenmal in ihrem Leben - erkannte Domaris, dass sie schön war, und das Wissen um ihre Schönheit ließ sie triumphieren, obgleich die Erkenntnis, dass Micon sie niemals sehen würde, den Triumph mit einem kalten Hauch von Traurigkeit überzog.
Nur einen Augenblick währte der seltsame, überwältigende Moment der Verzauberung. Dann teilte Domaris ihr langes Haar und stieg in den Teich. Nach ein paar Schritten reichte das leuchtende Wasser ihr bis zur Brust. Es war warm und prickelnd, gar nicht wie anderes Wasser, sondern wie schäumendes, zum Leben erwecktes Licht. Es glühte und schimmerte blau und in weichem Violett, es floss in Mustern um die Säule ihres Körpers, und als es sich für Sekunden über ihrem Kopf schloss, überkam Domaris von neuem eine atemberaubende Ekstase. Dann stand sie wieder aufrecht. Das Wasser rieselte ihr in duftenden, perlenden Tropfen von Kopf und Schultern. Sie watete auf
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