Das Licht Von Atlantis
sie hielt Micail mit wehmütiger Zärtlichkeit in den Armen. Deoris sorgte zwar mit all ihrem Können für ihre Schwester, machte jedoch einen geistesabwesenden und verträumten Eindruck. Das verwirrte und reizte Domaris, die von Anfang an heftig dagegen protestiert hatte, dass man Deoris erlaubte, bei Riveda zu arbeiten. Ihr einziger Erfolg war aber gewesen, dass sich die Schwester ihr nur noch mehr entfremdet hatte.
Ein einziges Mal versuchte Domaris, ihre alte Vertrautheit wiederherzustellen. Micail war in ihren Armen eingeschlafen, und Deoris wollte ihn ihr abnehmen, weil das schwere Kind sich wälzte und im Schlaf strampelte und Domaris so etwas noch nicht wieder vertragen konnte. Domaris lächelte zu ihrer jüngeren Schwester hinauf und meinte: »Ach, Deoris, du bist so lieb zu Micail! Ich kann es gar nicht erwarten, dich mit einem eigenen Kind in den Armen zu sehen!«
Deoris fuhr zusammen und hätte Micail beinahe fallengelassen, bevor sie erkannte, dass Domaris ohne belehrende Absicht nur spontan gesagt hatte, was ihr gerade in den Sinn gekommen war. Dennoch konnte sie ihre eigene überfließende Bitterkeit nicht zurückhalten. »Lieber würde ich sterben!« schleuderte sie Domaris unverblümt entgegen.
Domaris sah sie vorwurfsvoll an; ihre Lippen zitterten. »Oh, meine Schwester, du darfst etwas so Böses nicht sagen -«
Deoris' Antwort klang wie ein Fluch: »An dem Tag, wo ich mich schwanger weiß, Domaris, werde ich mich ins Meer stürzen!«
Domaris schrie schmerzerfüllt auf, als hätte ihre Schwester sie geschlagen. Obwohl Deoris sich sofort neben ihr auf die Knie warf und um Verzeihung für ihre unüberlegten Worte flehte, blieb Domaris stumm. Auch sprach sie später zu Deoris nur noch mit kühler, reservierter Höflichkeit. Es sollte viele Jahre dauern, bis endlich die Wunde heilte, die ihr Deoris' unüberlegter Ausbruch geschlagen hatte.
6. DIE KINDER DES VERHÜLLTEN GOTTES
Im Grauen Tempel machten sich die Magier langsam auf den Nachhauseweg. Deoris hatte furchterregende Rituale beobachtet und stand nun allein, mit Schwindelgefühlen und einer seltsamen Leere im Kopf. Da fühlte sie eine leichte Berührung am Arm und blickte in Demiras Elfengesicht.
»Hat Riveda dir nichts gesagt? Du sollst mit mir kommen. Das Ritual verbietet den Adepten und Magiern, eine Nacht und einen Tag danach eine Frau zu berühren oder nur mit ihr zu sprechen, und du darfst den Tempelbezirk nicht vor dem morgigen Sonnenuntergang verlassen.« Vertrauensvoll schob Demira ihre Hand unter Deoris' Arm, und Deoris, zu überrascht, um zu widersprechen, ging mit ihr. Riveda hatte es ihr schon gesagt. Manchmal litt ein Chela, der im Ring gewesen war, unter merkwürdigen Sinnestäuschungen, und deshalb mussten sie an einem Ort bleiben, wo man jemanden zu Hilfe holen konnte. Aber sie hatte angenommen, sie werde in Rivedas Nähe untergebracht. Demira hatte sie bestimmt nicht erwartet.
»Riveda hat mir aufgetragen, mich um dich zu kümmern«, erklärte Demira keck, und Deoris fiel etwas verspätet ein, dass die Graumäntel keine Kastengesetze beachteten. Ergeben ging sie mit Demira, die sofort lossprudelte: »Ich habe soviel über dich nachgedacht, Deoris! Die Priesterin Domaris ist deine Schwester, nicht wahr? Sie ist so schön! Du bist aber auch hübsch«, setzte sie nachträglich hinzu.
Deoris errötete und dachte im Stillen, Demira sei das reizendste Geschöpfchen, das sie je gesehen habe. Alles an ihr hatte den gleichen silbrighellen Ton: das lange, glatte Haar, die Wimpern, die geraden Brauen. Die Tupfer von Sommersprossen auf ihrem blassen Gesicht hatten einen leichten Goldschimmer. Sogar Demiras Augen wirkten silbern - obwohl sie bei einer anderen Beleuchtung eher grau oder blau waren. Ihre Stimme war sehr weich, hell und lieblich. Sie bewegte sich mit der Grazie einer in die Luft geblasenen Feder - leicht und unvorhersehbar.
Aufgeregt drückte sie Deoris' Finger. »Du hattest Angst, nicht wahr? Ich habe es dir angesehen, und du hast mir so leid getan...«
Deoris antwortete nicht, doch das schien Demira überhaupt nicht zu stören. Deoris dachte: kein Wunder, sie muss daran gewöhnt sein, dass sie keiner beachtet! Magier und Adepten sind nicht gerade die gesprächigsten Leute der Welt!
Der kalte Mondschein spielte über sie hin, und andere Frauen, einzeln und in kleinen Gruppen, schritten mit ihnen den Pfad entlang. Aber niemand sprach sie an. Manchmal näherten sich welche, als wollten sie Demira begrüßen, aber
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