Das Licht Von Atlantis
Riveda?«
Deoris schnürte sich unter Maleinas durchdringendem Blick die Kehle zusammen. Sie war nicht fähig zu antworten.
»Hör zu, Püppchen«, fuhr Maleina fort, »der Graue Tempel ist kein Ort für dich. In Atlantis würde eine wie du geehrt werden; hier wird man dich demütigen und erniedrigen - nicht nur dies eine Mal, sondern immer und immer wieder. Geh zurück, mein Kind! Geh zurück in die Welt deiner Väter, solange noch Zeit ist. Nimm deine Buße auf dich und kehre in den Tempel Caratras zurück, solange es noch nicht zu spät ist!«
Endlich fand Deoris ihre Stimme und auch ihren Stolz wieder. »Mit welchem Recht befiehlst du mir das?«
»Ich befehle dir nichts«, meinte Maleina traurig. »Ich spreche zu dir wie zu einer Freundin, zu jemandem, der mir einen großen Dienst erwiesen hat. Semalis, das Mädchen, dem du geholfen hast, ohne an die Folgen zu denken, war eine meiner Schülerinnen, und ich liebe sie sehr. Und ich weiß auch, was du für Demira getan hast.« Sie lachte; es war ein leiser, abrupter, seltsam kummervoller Laut. »Deoris, ich habe dich nicht an die Wächter verraten, aber ich hätte es getan, wäre ich sicher gewesen, dass das etwas Vernunft in deinen kleinen Dickkopf bringen würde. Deoris - sieh mich an!«
Unfähig zu sprechen, gehorchte Deoris.
Einen Augenblick später wurde Maleinas durchdringender Blick sanfter und sie sagte freundlich: »Ich will dich lieber nicht hypnotisieren... ich möchte nur, dass du siehst, was aus mir geworden ist, mein Kind.«
Deoris betrachtete Maleina genau. Die Atlanterin war groß und sehr schlank, und ihr langes glattes Haar, das unbedeckt war, flammte um ein dunkelbronzenes Gesicht. Ihre langen schmalen Hände waren auf der Brust gekreuzt wie die einer schönen Statue - aber das zartknochige Gesicht war müde und ausgehöhlt, der Körper unter der grauen Kutte flachbrüstig, mager und merkwürdig formlos, und die leicht herabhängenden Schultern verrieten, dass sie früh gealtert war. Dazu entdeckte Deoris weiße Strähnen in ihrem leuchtenden Haar.
»Auch ich habe mein Leben in Caratras Tempel begonnen«, sagte Maleina ernst, »und jetzt, wo es zu spät ist, wünschte ich, ich hätte niemals einen Blick hinausgeworfen. Geh zurück, Deoris, solange noch Zeit ist. Ich bin eine alte Frau und weiß, wovor ich dich warne. Möchtest du deine Weiblichkeit verdorren sehen, noch bevor sie voll in dir erwacht ist? Deoris, du hast gesehen, was ich bin, und weißt auch, was ich aus Demira gemacht habe. Geh zurück, Kind.«
Deoris senkte den Kopf. Sie kämpfte gegen die Tränen an und schluckte.
Maleinas lange, schmale Hände berührten leicht ihre Stirn. »Du kannst nicht mehr zurück«, murmelte sie traurig. »Es ist bereits zu spät, nicht wahr? Armes Kind!«
Als Deoris wieder klar sehen konnte, war die Zauberin verschwunden.
8. DIE KRISTALLKUGEL
Mittlerweile verließ Deoris die Mauern des Grauen Tempels manchmal tagelang nicht mehr. Man führte dort, in der Welt der Graumäntel-Frauen, ein untätiges und hedonistisches Leben, und Deoris ließ sich wie in einen Traum hineingleiten. Sie verbrachte viel Zeit mit Demira. Diese schlief viel, badete im Teich, plauderte müßig und endlos - manchmal redete sie kindischen Unsinn, manchmal machte sie aber auch merkwürdig ernste und reife Bemerkungen. Demira besaß eine rasche, wenn auch sehr vernachlässigte Intelligenz, und Deoris machte es viel Freude, an sie weiterzugeben, was sie selbst als Kind gelernt hatte. Sie tollten mit den Chelas umher, die noch zu klein für das Leben in den Männerhöfen waren, und lauschten immer wieder aufmerksam den Reden der älteren Priesterinnen und erfahrener saji . Ihre Gespräche brachten die unschuldige Deoris, die unter den Priestern des Lichts aufgewachsen war, oft aus der Fassung. Für Demira war es ein boshaftes Vergnügen, Deoris die dunklen Anspielungen in den Reden zu erklären, und diese war anfangs schockiert, dann fasziniert.
Alles in allem verstand sie sich mit Rivedas Tochter gut. Sie waren beide jung, viel zu reif für ihre Jahre und beide durch recht unnatürliche Mittel in eine rebellische Geisteshaltung gezwungen worden; Deoris war sich darüber allerdings keineswegs im klaren.
Deoris und Domaris waren sich inzwischen beinahe fremd geworden. Sie trafen sich nur selten und wahrten dann eher Zurückhaltung. Merkwürdigerweise hatte Deoris' intime Beziehung zu Riveda sich nicht weiterentwickelt. Er benahm sich ihr gegenüber fast so unpersönlich,
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