Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
Inzwischen dauert die Fahrt in die Stadt dank der Teerstraßen nicht mehr lang. Kein Vergleich zu damals, als sie gerade hierhergekommen waren. Als Tom seine Krawatte bindet, blickt ihm ein grauhaariger Fremder entgegen, nur für eine Sekunde, und dann fällt ihm wieder ein, dass der Mann im Spiegel ja er selbst ist. Mittlerweile schlottert der Anzug ein wenig, und zwischen Kragen und Hals klafft eine Lücke.
Draußen vor dem Fenster erheben sich die Wellen und zerschellen in einer Wolke aus weißem Schaum draußen auf dem Meer. Nichts auf dem Ozean weist darauf hin, dass Zeit verstrichen ist. Nur das Heulen der Auguststürme ist zu hören.
Nachdem Tom den Umschlag in die Schatulle aus Kampferholz gelegt hat, schließt er den Deckel. Bald wird der Inhalt alle Bedeutung verloren haben. So wie die vergessene Sprache der Schützengräben Gefangene einer ganz bestimmten Zeit gewesen ist. Die Jahre lassen den Sinn der Dinge verblassen, bis nur noch eine knochenweiße Vergangenheit übrig ist, sämtlicher Gefühle und Wichtigkeiten beraubt.
Der Krebs tat nun schon seit Monaten sein Werk und fraß sich durch ihre Tage, und man konnte nichts anderes tun als abzuwarten. Wochenlang hat er an ihrem Bett gesessen und ihr die Hand gehalten. »Erinnerst du dich noch an das Grammophon?«, hat er gefragt. Oder: »Was mag nur aus der alten Mrs. Mewett geworden sein?«
Sie hatte leicht gelächelt. »Denk daran, die Rosen zu beschneiden«, hatte sie gesagt, wenn sie die Kraft dazu hatte. Oder: »Erzähl mir eine Geschichte, Tom. Eine Geschichte mit einem glücklichen Ende.« Er streichelte ihre Wange und flüsterte: »Es war einmal ein Mädchen, das hieß Isabel, und es war das mutigste Mädchen weit und breit …« Beim Sprechen bemerkte er die Altersflecken auf ihren Händen, dass die Knöchel inzwischen leicht anschwollen und dass der Ring zwischen den Gelenken locker saß.
Als sie zum Schluss nicht einmal mehr Wasser trinken konnte, hatte er sie am Zipfel eines angefeuchteten Waschlappens lutschen lassen und ihre Lippen mit Lanolin eingecremt, damit sie nicht aufsprangen. Er hatte ihr inzwischen grau meliertes Haar liebkost, das sie zu einem dicken Zopf geflochten trug, und beobachtet, wie sich ihre Brust hob und senkte, mit derselben Ungewissheit wie damals bei Lucy nach ihrer Ankunft auf Janus: jeder Atemzug ein Kampf und ein Sieg.
»Bedauerst du es, dass du mir je begegnet bist, Tom?«
»Ich bin geboren worden, um dir zu begegnen, Izz. Dafür bin ich auf der Welt«, erwiderte er und küsste sie auf die Wange.
Seine Lippen erinnerten sich an jenen ersten Kuss vor vielen Jahrzehnten, an einem windumtosten Strand bei Sonnenuntergang: ein kühnes, furchtloses Mädchen, das nur seinem Herzen folgte. Er denkt an ihre Liebe zu Lucy, sofort, unverbrüchlich und ohne Fragen zu stellen. Eine Liebe, die unter anderen Umständen ein Leben lang erwidert worden wäre.
Er hat versucht, Isabel seine Liebe zu zeigen, dreißig Jahre lang in jeder Handlung und an jedem einzelnen Tag. Doch nun würde es keine weiteren Tage mehr geben. Und weil er bald nichts mehr würde zeigen können, drängte die Zeit. »Izz«, sagte er zögernd. »Möchtest du mich etwas fragen? Gibt es etwas, das du von mir wissen willst? Alles. Ich bin in solchen Dingen nicht sehr gut, aber ich verspreche dir, dass ich mich bemühen werde, dir zu antworten, falls da etwas ist.«
Isabel zwang sich zu einem Lächeln. »Offenbar gibst du mir nicht mehr viel Zeit, Tom.« Sie nickte und tätschelte seine Hand.
Er hielt ihrem Blick stand. »Vielleicht bin ich auch jetzt erst endlich bereit zu reden …«
Ihre Stimme war schwach. »Schon gut. Ich brauche nichts mehr zu erfahren.«
Tom streichelte ihr Haar und sah ihr lange in die Augen. Er lehnte die Stirn an ihre, und sie verharrten in dieser Haltung, bis sich ihre Atemzüge veränderten und mühsamer wurden.
»Ich will dich nicht verlassen«, sagte sie und umklammerte seine Hand. »Ich habe solche Angst, Liebling. Solche Angst. Was, wenn Gott mir nicht vergibt?«
»Gott hat dir schon vor Jahren vergeben. Es wird Zeit, dass du es auch tust.«
»Der Brief?«, fragte sie aufgeregt. »Du passt doch auf den Brief auf?«
»Ja, Izz. Ich passe darauf auf.« Der Wind brachte die Fenster zum Erbeben wie vor so vielen Jahren auf Janus.
»Ich werde mich nicht verabschieden, nur für den Fall, dass Gott mich hört und glaubt, dass ich schon bereit bin zu gehen.« Sie drückte noch einmal seine Hand. Danach hatte sie nicht
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