Fressen ihn die Raben - Alpen Krimi
Karst
Inzwischen hatte die Sonne begonnen, die Luft anzuwärmen. Der nebelige Dunst oben am Koglerhaus verzog sich in höhere Regio nen. Die Murmeltiere waren erwacht und mit scharfen Pfiffen warnten sie sich vor der Gestalt, die den Weg durch das Tal nahm. Auch ohne die Tiere zu sehen, belegte der ranzige Geruch, der über den Wiesen lag, ihre Existenz. Ihre Höhlen, Dachsbauten nicht unähnlich, perforierten den Talkessel, während sich durch den Erdaushub überall kleine Hügel bildeten.
Die Schritte ließen das Koglerhaus links und den Grünsee hinter sich liegen und wandten sich an der Wegkreuzung dem Viehkogel zu. Dieser kegelige Berg war bis zur Spitze mit Gras bewachsen und beschattete als Hausberg die Herberge. Ein Blick in die Weite zeigte eine Landschaft ohne Wanderer. Der Weg schlängelte sich durch die Felsen hinauf. Ein Pfad führte rechts in ein weiteres, mit gelblich verfärbten Lärchen und Kiefern bewachsenes Tal. Jenseits leuchtete die Hirschwand in der morgendlichen Sonne. Sie war Teil des Hirsch genannten Bergrückens, der sich am Horizont erstreckte. Dort hinauf führte der Weg, der bis zum Ingolstädter-Haus und darüber hinaus verlief.
Die Augen suchten die Strecke ab und erkannten in dem sehr steilen Zickzackweg unterhalb der Wand einige bunte Punkte. Das waren Bergwanderer, die sich den Pfad zur Hirschwand hochmühten. Bis da oben hätte man also denselben Weg.
Als der Fuß der Wand erreicht war, wandte sich die Gestalt links in den sogenannten Eichstätter Weg, der am Zirbenmaterl, einem Betstock, vorbeiführen sollte. Die Landschaft wurde weiter, niedrige Nadelbäume umstanden große Kalksteinplatten. Am Horizont rundeten sich die Felsmassive zu einem Kessel, in dem das Steinerne Meer lag. Wie Wellen erhoben sich die Steinplatten quer aneinander gelehnt, Flechten bedeckten die Steinspitzen wie Schaumkronen.
Die wenigen Pflanzen am Weg beruhigten das Auge. Immer wieder kam das Ingolstädter-Haus zwischen Felsbrocken in Sicht. Entfernt, wie eine Mondbasis in grauem Tal lag es da. In einer langen Wegbeuge war ersichtlich, dass niemand sonst den Pfad ging.
Etwas abseits stand eine Kiefer, die Blitze vor Zeiten gespalten hatten. Das Zirbenmaterl. Kein Wegweiser, kein Trampelpfad führte zu dieser Stelle. Man musste den Baum schon kennen. In den Stamm geschnitten, dunkel und alt, behütete das Bildnis der Gottesmutter Maria den Wanderer.
Die Gestalt hatte die Anstrengung des steilen Weges an der Hirsch wand vergessen und setzte das Gepäck ab. Blau leuchtete der Himmel, und die Wärme der Sonne lockte den Harzgeruch aus den Bäumen. Kolkraben flogen vorüber. Ein Blick nach oben, und wieder zuckten Bilder wie Blitze im Kopf. Erinnerungen an einen bandagierten Körper auf felsigem Grund und bunte Stofffetzen im Wind.
Vögel, hier oben die einzig sichtbaren Lebewesen, lenkten die Gedanken aus dem Wachtraum zurück in die Realität. Da waren die Kalksteinplatten des Karsts hinter dem Materl, die immer wieder tiefe Spalten und ausgewaschene Hohlräume bildeten. Vor einem dieser dunklen Löcher wurde der Rucksack abgelegt. Plötzlich dröhnten im inneren Ohr lange Bodentrompeten, die es hier gar nicht gab. Ununterbrochen murmelte die menschliche Stimme einen sich wiederholenden, kurzen Satz in fremder Sprache. Die Hände senkten sich langsam in die Sacköffnung und kamen mit dem Kopf eines Mannes hervor. Bedächtig führten sie den Schädel in den Hohlraum und ließen ihn fallen. Er schlug dumpf auf den Stein.
Am Felsen schmierte die Gestalt den Blutschleim von ihren Fingern. Dann nahm sie das Gepäck wieder auf und sprang am Zirbenmaterl vorbei auf die Felsplatten unterhalb des Marienbildes. Eine Hand hielt den Rucksack, die andere verteilte den Inhalt wie zu einem Sämann gehörend. Nach einem Arm, noch in grünes Tuch gekleidet, wurde die dazugehörende Hand hervorgeholt. Ein kurzer, abschätzender Blick auf den Ring am Finger, dann verschwand auch sie in einer Felsspalte. Im Ohr ein tosendes Trompeten und Trommeln, hohe Bergspitzen mit ewigem Eis blitzten vor dem inneren Auge auf. Danach herrschte Stille, die nicht einmal der Wind unterbrach.
Schweiß und Rosinen
Der Weg schlängelte sich entlang eines Baches durch einen bunten Mischwald. Bemooste Felsen und Farne leuchteten im Unterholz.
Elkes Pausen hatten dazu geführt, dass ihr unfreiwilliger Begleiter mit den Worten »Na, da scheinen wir ja denselben Weg zu haben!«, an ihr vorbeigezogen war. Der mit den grauen Haaren verkrautete
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