Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
hyperaktive, etwa zwei Jahre alte Tochter zu bändigen. Das Mädchen hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Fahrt auf dem Sitz tanzend zu verbringen und dabei aus dem Fenster zu schauen.
Ich lächelte der Kleinen in dem pinkfarbenen Overall aufmunternd zu, was sie mit einem erfreuten Quieken quittierte. Dann lehnte ich den Kopf gegen die Scheibe und bemühte mich, die Gespräche auszublenden, die aufflammten, nachdem sich die Türen geschlossen hatten.
Ich hatte schlecht geschlafen und war in der Nacht mehrmals aus seltsamen Träumen aufgewacht, an die ich mich aber nicht mehr richtig erinnern konnte. Das kam häufiger vor, und ich musste morgens in der U-Bahn immer höllisch aufpassen, dass ich nicht einschlief und meine Station verpasste.
Ein Ruck ging durch die Bahn, als sie schließlich anfuhr, und im Takt der auftauchenden Tunnellichter erschien und verblasste mein Spiegelbild, das mich aus verschlafenen Augen anblickte. Es mochte Sommer sein oder Winter, meine Hautfarbe änderte sich nie. Immer das gleiche blasse Elfenbeinweiß. Auch meine Haarfarbe war immer noch dieselbe wie bei meiner Geburt vor siebzehn Jahren: ein verblichenes Weizenblond. Meine Augen hatten sich im Gegensatz dazu mit der Zeit erheblich verändert.
Es war so was wie ein Naturgesetz, dass die Farbe von Kinderaugen mit den Jahren nicht gleich blieb – aber meist wurde sie dunkler. Meine Augen dagegen wurden mit jedem Jahr heller, so, als würde jemand die Farbe aus ihnen herauswaschen. Früher hatten sie nachtblau geleuchtet, mittlerweile waren sie bei einem kaum noch wahrnehmbaren Eisblau angekommen. Ich stand jeden Morgen vorm Spiegel und überprüfte ihre Farbe, denn ich hasste es, dass sie heller wurden. Das war doch nicht normal! In letzter Zeit bildete ich mir manchmal sogar ein, ein rosafarbenes Schimmern auf der Iris zu sehen. Vielleicht war ich ja ein Albino?
Meine Obsession mit meinen Augen war sicher auch nicht normal, aber schließlich hat jedes Mädchen etwas, das es nicht an sich mochte. Bei mir waren es eben die Augen. Ansonsten gab es nicht viel zu meckern, da ich recht groß und schlank war. Außerdem verschwand mein Körper ohnehin meist unter weiten Shirts und Jeans oder in der blauen Kluft aus Latzhose und Jacke, die ich seit dem Beginn meiner Tischlerlehre die meiste Zeit des Tages und auch jetzt trug.
»Aileen, nun setz dich endlich hin!«, schimpfte die Mutter neben mir ungehalten und riss mich aus meinen Gedanken.
Unwillkürlich musste ich grinsen, denn die kleine Sitzplatzsurferin trug den gleichen Vornamen wie ich. Aileen. Das letzte Vermächtnis meiner verstorbenen Mutter. Mein irisches Erbe, wie mein Vater früher immer behauptet hatte, bevor er den Alkohol zu seinem Hauptlebenszweck auserkoren hatte.
Irisches Erbe? Ich sah eher wie eine Schwedin aus – na ja, wie das Stereotyp einer Schwedin. Die irischen Merkmale waren vermutlich irgendwo in den Weiten des Genpools verloren gegangen. Übrig geblieben war nur ein verblichenes Mädchen mit seltsamen Augen.
Das Kind neben mir fing zu weinen an, denn die Mutter hatte es nun gewaltsam auf den Sitz gezwungen, und hörte auch dann nicht auf, als die Computerstimme den Namen der nächsten Station plärrte und neue Passagiere einstiegen.
Ein Kinderwagen wurde an uns vorbeigeschoben, als mir plötzlich Zimtgeruch in die Nase stieg. Er entströmte dem Anzug des Mannes, der sich mir gegenüber hinsetzte. Seltsames Aftershave.
Die kleine Aileen verstummte angesichts des Mannes schlagartig, und auch mich fesselte sein Anblick.
Ich hatte noch nie einen echten Mafioso gesehen, aber dieser Mann kam meiner vom Kino beeinflussten Vorstellung ziemlich nahe. Sein Nadelstreifenanzug war vermutlich aus einem teuren Stoff maßgeschneidert worden, darunter trug er ein weißes Hemd und eine silberne Seidenkrawatte. Seine Schuhe glänzten im Schein der Waggonbeleuchtung, als seien sie mit Lack überzogen, und in der Hand hielt er einen Gehstock, dessen silberner Knauf mit einem großen blauen Edelstein verziert war. In diesem übertriebenen Aufzug fiel er unter den restlichen Passagieren ebenso auf wie eine Bikiniträgerin zwischen Skifahrern.
Ich war nicht die Einzige, die ihn misstrauisch beäugte, aber das lag vielleicht auch daran, dass er nicht sonderlich gesund aussah. Seine Wangen hatten im künstlichen Licht der U-Bahn einen kränklichen Grünton. Ansonsten sah sein Gesicht zwar asketisch, aber trotzdem attraktiv aus, irgendwie aristokratisch. Die Augen waren
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