Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
D ie Zeit zu erwachen war gekommen.
Während er tief und fest schlief, spürte der Wächter, wie sich sein altes Herz wieder zu regen begann. Der Traum, den er jahrtausendelang geträumt hatte, zog sich mit jedem langsamen Schlag weiter zurück.
Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Die Erinnerung an eine Zeit, in der die Götter die Wächter geschaffen und ihnen ein Bewusstsein gegeben hatten. Ihren Auftrag. Er erinnerte sich an seine erste Wacht, die genau eintausend Jahre gedauert hatte. Grüne Landschaften waren vor seinen Augen vorbeigezogen, außerdem Menschen, die gerade erst gelernt hatten, sich Behausungen zu bauen.
Nun war es erneut so weit. Das Zeitenrad hatte sich gedreht und war wieder bei ihm angekommen. An einem anderen Ort der Welt versank sein Vorgänger in einen Traum, der mehr als zwölftausend Jahre andauern würde.
Zwölf Wächter sollt ihr sein und ein jeder tausend Jahre achtgeben auf die Schöpfung, bevor der Kreis von neuem beginnt … Das waren die Worte der Götter gewesen, als sie den ersten von ihnen auserkoren hatten. Der Erwachende hatte sie nun wieder deutlich vor sich.
Was hatten die Menschen in all dieser Zeit geschaffen? Waren sie den Göttern ähnlicher geworden? Hatten sie die Welt in das Paradies verwandelt, das sich die Götter einst erträumt hatten?
Meine Aufgabe wartet. Wenn die Menschen Hilfe brauchen, werde ich sie ihnen geben. Die Götter sollen stolz sein auf sie – und mich …
Schließlich öffnete er sein Auge.
Seiner steinernen Gruft hatte die Zeit nichts anhaben können. Nur hier und dort fehlte einer der grob gehauenen Brocken, die die Decke des Ortes bildeten, der früher einmal sein Tempel gewesen war. Diverse Statuen und Altäre zeugten noch davon.
Der Wärter erhob sich und näherte sich einem steinernen Becken, das eine Quelle einfasste. Mit einem langen Fingernagel ritzte er sich ins Handgelenk.
Als der Blutstropfen wie eine schwarze Perle ins Wasser fiel, leuchtete das Becken auf. Ein blauer Schimmer legte sich auf die abgezehrten Züge des Wächters und spiegelte sich in seinem kristallenen Auge. Dampf erhob sich und verbarg das Wasser.
Strom der Zeit, tu dich auf und zeige mir die Gegenwart.
Plötzlich strömte eine Vielzahl von Geräuschen auf ihn ein. Stimmen, unzählige Stimmen, die alle redeten, riefen, schrien, dazu andere Geräusche, die er sich nicht erklären konnte.
Er versuchte zu verstehen, was er hörte. Er hatte damit gerechnet, dass die Menschheit sich vermehrt und verändert hatte, doch solch eine Kakophonie hatte er nicht erwartet.
Waren diese Laute ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Mit einer Handbewegung wischte er den über dem Becken wabernden Nebel fort. Jetzt konnte er sehen, was mit der Welt passiert war.
Das Grün der Wiesen und Wälder war Irrgärten aus Stein gewichen. Die Menschen hatten ihre Welt in ein Mausoleum verwandelt, ein Mausoleum, in dem sie ein Wettrennen veranstalteten. Seltsame Gebilde bewegten sich fast schneller als das Auge. Überall war Lärm.
Sah die Welt wirklich so aus? Oder versagte vielleicht seine Magie?
Mit langen Schritten folgte er dem Gang, der einst in die Felsen gehauen worden war und in einer Barriere aus Geröll endete. Vor seinen ausgestreckten Händen schmolz sie jedoch hinweg wie eine Eiswand und gab schließlich den Weg nach draußen frei.
Nachtluft wehte dem Wächter entgegen, aber selbst sie hatte sich verändert.
Gestank.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Wie hatte das reine Götterblut der Wächter versagen können? Waren die unwürdigen Bastarde, denen die Kräfte der Götter gar nicht zustanden, etwa so mächtig geworden?
Während der Wächter auf eine Welt aus Stein, Lärm und Gestank hinunterblickte, wurde der Weg, den er gehen musste, immer klarer. Er würde Terra wieder in den Ort verwandeln, den die Götter ihm und seinen Brüdern zur Wacht überlassen hatten. Und die Schuldigen jagen …
1. Kapitel
M orgens um halb acht war die U3 Richtung Nollendorfplatz für gewöhnlich voller blassgesichtiger Zombies. Einige von ihnen hatten die Kopfhörer ihres iPod in den Ohren, andere vertieften sich in ihre Lektüre. Keine Ahnung, wie oft ich neben einem Studenten gesessen hatte, der die kurze Fahrt dazu nutzen wollte, Mathe oder ein anderes Fach zu pauken.
Diesmal war es aber kein Mathe-Nerd, neben den ich mich nach dem Einsteigen setzte, sondern eine genervt wirkende Mutter, die bereits in der U-Bahn war und verzweifelt versuchte, ihre
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